Auf den kleinen Gefühlsausbruch war ich gar nicht vorbereitet gewesen. Das letzte Mal des Stöberns in Erinnerungen war wohl schon zu lange her gewesen. Eigentlich wollte ich nur mal eben ein paar Fotos heraussuchen, nachdem ich beim Zubettbringen der Kinder auf die Idee gekommen war. Ich hatte in Minis Bett gesessen, gemeinsam hatten wir dem kleinen Bagger Ben aus der gleichnamigen Geschichte Gute Nacht gesagt und Minis Lieblingslied gesungen. Statt wie sonst anschließend herumzuhopsen, lag mein Jüngster nun immer noch ruhig auf meinem Schoß und ließ sich den Rücken kraulen. Es herrschte eine absolut friedliche Atmosphäre, die mich unweigerlich an unsere allererste gemeinsame Nacht nach seiner Geburt zurückdenken ließ. Die erste und einzige Nacht, in der ich es aushielt, mit einem meiner Kinder die Nacht gemeinsam im Bett zu liegen.
Ich hatte Mini noch nie von dieser Nacht erzählt, wie er da so friedlich schmatzend neben mir unter der Bettdecke lag, während ich vor Aufregung kein Auge zumachen konnte. Bisher hielt ich meine Kinder immer noch zu jung für solche Anekdoten. Aber es war noch etwas anderes, das mich generell zurückhielt, ihnen Geschichten aus ihrer Baby- und Kleinkindzeit zu erzählen.
Mich zurückzuerinnern an geparkte Stubenwagen im Wohnzimmer, an die ersten Krabbelversuche auf dem Teppich, an Ausflüge mit Sack und Pack an den nahegelegenen See, bedeutet für mich auch, schmerzvolle, traurige Erinnerungen aufleben zu lassen. Denn die ersten Kleinkindjahre waren für mich hauptsächlich eine Tortur, eine Aneinanderreihung von depressiven und unglücklichen Zeiten, in denen ich mich oft genug weit weg von meinem Nachwuchs gewünscht hatte. Intensive Nachfragen seitens der Kinder, wie schön genau der Ausflug war oder wieviel Spaß es mir gemacht hatte, sie als Baby zu baden, hätte mich nur in Verlegenheit gebracht. Also vermied ich es, wo es ging, ausführlich aus den ersten Zeiten zu erzählen.
Aber nun hörte ich mir selbst dabei zu, wie ich Mini von seiner ersten Nacht bei uns vorschwärmte, davon, wie klein er gewesen war und wie sehr er mich jetzt, sechs Jahre später an mich gekuschelt, an den kleinen Jungen von damals erinnerte. Mir wurde auf einmal schmerzhaft bewusst, dass Mini selbst kein Bild von sich als Baby hat, einfach, weil es bis auf ein gerahmtes Foto über unserem Bett keins aus der Babyzeit von den Kindern im Haus gibt. Und als ich die Tür zu Minis Kinderzimmer anschließend hinter mir zuzog, schwor ich mir, noch am selben Abend endlich sein erstes Fotoalbum anzulegen und ihm so eine Erinnerung zu schenken, den Teil seiner Identität, der ihm zustand.
Hunderte Bilder lagen in dem Ordner von 2013 und ich fing direkt bei Minis Geburt mit dem Durchklicken an. Da lag ich auf der Geburtsliege, den zerknautschten Mini neben mir in ein Handtuch gewickelt. Ich hatte gar nicht mehr genau gewusst, wie er kurz nach der Entbindung ausgesehen hatte und mir fiel augenblicklich die Ähnlichkeit auf, wenn er heute den Mund verzieht. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über mein Gesicht.
So suchte ich ein Bild nach dem anderen aus und stellte fest, wie viele ich inzwischen mit Mutterstolz betrachten konnte. Ein Kloß in meinem Hals machte sich breit, als ich ernüchternd feststellen musste, dass dies wohl das erste Mal war, dass ich meine damals abgebildeten Kinder mit dem liebevollen Blick einer Mutter wahrnahm. Früher dominierten die postpartale Depression und das Gefühl, für immer eingesperrt zu sein im Käfig namens Mutterrolle.
Ich musste schlucken, als ich mich selbst auf der Bank des Spielplatzes sitzen sah, völlig abgemagert, ein müdes Lächeln für den Fotografen zustande gebracht. Wie würde ich Mini und Maxi später erklären, warum ich auf so vielen Bildern kein Lachen zeigte, das bis zu meinen Augen reichte? Meine Kehle schnürte sich zu, als ich meinen Großen sah, wie er als Einjähriger schüchtern in die Kamera blickte. Damals hatte ich nur ablehnende Gefühle für ihn übrig. Es zerriss mir beim Betrachten der Fotos fast das Herz, erst heute seinen Schmerz mitfühlen zu können, und was er damals als hilfloses Kind unter seiner depressiven Mutter durchgemacht haben musste.
Ich bin kein Mensch, der erstmal länger darüber nachdenken muss, wo ein Foto entstanden ist, selbst wenn die Aufnahme schon Jahre zurückliegt. Wenn ich Bilder betrachte, ist es, als würde ich direkt dorthin switchen, als wäre ich noch einmal mit am Ort des Geschehens. Aber nicht nur das; ich kann mich auch gleich an die Emotionen erinnern, die mit den Aufnahmen verbunden sind und fühle sie beim Betrachten erneut. Ein wunderbares Phänomen, wenn ich die Kleinkindjahre mit meinen Söhnen als vorwiegend beglückend empfunden hätte. Dann hätte ich in den weniger schönen Phasen einfach keine Fotos geschossen oder ihnen beim anschließenden Anschauen nicht viel Gewicht beigemessen und mich stattdessen an den vielen Schnappschüssen aus glücklichen Zeiten erfreut.
In meinem Fall ist das anders. Wenn ich nur die glücklichen Momente zwischen mir und
den Kindern festgehalten hätte, würden womöglich keine Familienfotos aus der Kleinkindzeit existieren. Die Momente, in denen ich wirklich glücklich war, findet man auf den wenigen Fotos in kinderfreien Situationen, wenn ich mit meinem Mann oder guten Freunden alleine unterwegs war. Aber auch aus diesen Bildern springt mir das Grundgefühl meiner damaligen Trostlosigkeit und Resignation entgegen.
So saß ich da vor meinem Laptop und mir kamen plötzlich die Tränen. Ich weinte um Maxi, um Mini, um meinen Mann und um mich. Wir alle hatten uns die ersten Jahre sicherlich nicht so voll von trüben Tagen vorgestellt.
Früher konnte ich mir die Fotos nicht angucken. Früher wollte ich mir die Fotos nicht ansehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich auf das Fotografieren in den ersten Monaten verzichten können. Gut, dass mein Mann auch noch da war und das übernahm. Damals hätte ich mir noch nicht vorstellen können, dass noch Zeiten kommen würden, in denen ich mir diese Fotos sehr gerne anschauen würde, mir sogar etwas fehlen würde, wenn es sie nicht gäbe. Und heute, nach sieben Jahren Muttersein, war der Zeitpunkt endlich gekommen.
Leicht ist es immer noch nicht. Ich kann nicht stundenlang in den Bildern stöbern. Dann muss ich aufpassen, mich emotional nicht allzu sehr mitreißen zu lassen. Aber es wird besser, je mehr Zeit vergeht, je mehr Abstand zwischen heute und damals liegt. Ich hoffe sehr, dass mir die Fotoalben meiner Kinder dabei helfen werden, den Schrecken der Vergangenheit zu lindern und beim gemeinsamen Betrachten der Bilder mit den Kindern neue, positive Verknüpfungen entstehen zu lassen.
Letzten Sommer haben mein Schwager und meine Schwägerin geheiratet. Die anschließende Feier fand in einem ländlich gelegenen Restaurant statt, in unmittelbarer Nähe einer frisch gemähten Wiese, auf der das Heu noch herumlag. Ideal für zwei tobefreudige Kinder wie meine. Ausgelassen sprangen sie umher, warfen das duftende Grün in die Luft und fühlten sich trotz meines fotografierenden Mannes gänzlich unbeobachtet in ihrem Spaß.
Es sind die bisher schönsten Kinderfotos, die ich von ihnen habe, weil sie so ungestellt, unverkrampft und echt sind, aber vor allem so frei von negativen Emotionen. Ich werde die besten von ihnen entwickeln lassen und ihnen einen adäquaten Platz in unserem neuen Haus zukommen lassen, an dem sie gut sichtbar für alle hängen werden.
Schöne Erinnerungen, die uns auch in Zukunft beim Betrachten alle glücklich machen.
(Fotolizenzen mit freundlicher Unterstützung von © Laura Pashkevich – Fotolia.com (Titelbild), © JenkoAtaman – Fotolia.com (Frau kuschelt mit Kind), © pololia – Fotolia.com (Frau am Babybett))
Caro sagt:
Liebe Christine,
ich fühle sehr mit dir. Von Anfang an hatte ich das Gefühl über mich zu lesen, wenn ich deine Texte vor mir hatte. Auch ich hatte eine postpartale Depression. Das habe ich allerdings tatsächlich erst letztes Jahr im September erfahren, ganze sechs Jahre zu spät. Im Fernsehen berichtete eine davon betroffene Mutter über diese Zeit. Ich saß heulend vor dem Fernseher und dachte, sie erzählt meine ersten Monate mit Kind. Da wurde mir das allererste Mal klar, dass ich nicht die schlechteste Mutter auf der Welt bin. Stattdessen war ich einfach eine Mutter, die Depressionen hatte. Seit ich das weiß, kann ich besser mit dieser Zeit umgehen. Aber immer wieder kommt dieser große Schmerz in mir hoch. Zuletzt, als ich das Neugeborene einer Freundin im Arm hielt. Plötzlich kam dieser große Schmerz in mir hoch, so viele wundervolle Momente verpasst zu haben, sie nicht gesehen und nicht gefühlt zu haben. Dieses tiefe Glück ein Kind zu haben. Es fehlte… Ich fühle mich jetzt im Rückblick dieses Glückes beraubt. Leider habe ich mich damals in meinem tiefen Schmerz niemandem anvertraut. Ich dachte, dass man mir mein Kind wegnimmt, wenn ich über das wahre Ausmaß meiner dunklen Gedanken spreche. Heute sage ich jeder frischgebackenen Mutter, dass es diese tiefschwarzen Gefühle gibt und dass sie mit mir darüber reden kann. Dass ich sie nicht verurteilen, sondern verstehe.
Danke für deine Offenheit. Sie hilft mir selbst bei meiner Heilung.
Ganz herzliche Grüße
Caro
Vanessa sagt:
Liebe Christine.
ich verfolge deinen Block schon seit 3 Jahren. und ich hab jedesmal das gefühl ich lese übe rmich selbst. es tut so gut nicht allein zu sein. anders als viele deiner Leserinnen hatte ich allerdings keine Postpartale Depression. durch die Hormone empfand ich die ersten Monate immer als die schönsten. die Depression kam während der Schwangerschaft meines 2. Kindes, mit kurzer unterbrechung nach der Geburt. Nach dem Abstillen, 8 Monate nach der Geburt, schlug die depression wieder ein wie eine Bombe. meine armen Kinder. nie hätte ich gedacht dass es sooo anstrengend sein kann, seinen eigenen Kindern die Liebe, Geduld und Führsorge spüren zu lassen die sie brauchen.
Danke für deinen Blog!
lg Vanessa
Marlene sagt:
Hallo Christine!
Ich kann mich den anderen nur anschließen,dass es wäre,als würde teilweise ich selbst erzählen. Ich führe,das alles auf meine Hochsensibilität zurück. Ich hätte mir das nie jemanden sagen getraut,wie ich mich fühle ( seit 6,5 Jahren) . Es tut echt gut,zu wissen,dass ich nicht alleine damit bin. Danke dafür! LG Marlene
Sabrina sagt:
Kennt ihr diesen reißerischen Artikel zum Regretting Motherhood?
https://www.zeit.de/2016/12/regretting-motherhood-eltern-glueck-familiendebatte
Bin grad so wütend.
Elisabeth sagt:
Hallo,
Ich lese deinen Blog seit einigen Wochen. Ich habe eine sechs Wochen alte Tochter und fühle mich genauso, wie du es beschreibst. Ich habe Angst, dass ich eine postpartale Depression haben könnte und ob ich mir Hilfe suchen muss, oder es mit der Zeit besser wird. Meine Mutter hat mir gesagt, dass es ihr mit mir ähnlich ging, dass sie aber nach einer bestimmten Zeit Zugang zu mir fand.
Christine sagt:
Liebe Elisabeth,
egal, ob es von alleine besser wird oder nicht: In jedem Fall kann ich dir nur empfehlen, dir Hilfe zu suchen, denn mit empathischer und fachlicher Unterstützung läuft es einfach leichter, weil man auch nicht mehr das Gefühl hat, völlig alleine mit seinen Sorgen zu sein. Damit meine ich primär nicht mal eine Psychotherapie o.ä. Vielleicht kannst du erstmal eine Hebamme anrufen oder eine Familienberatungsstelle. Ich wünsche dir von Herzen, dass dir das Mamasein irgendwann leichter fällt und du auch Zugang zu deiner Tochter bekommst, aber setze dich bitte nicht unter Druck. Angst und Druck verstärkt dein Leid eher. Versuche vor allem, mitfühlend mit dir selbst umzugehen und deine Situation so anzunehmen, ohne sie zu bewerten, auch, wenn das oft schwer ist, denn wir alle streben den glücklichen Zustand an und möchten negative (bzw. gar keine Gefühle) meiden. Dabei möchten sie uns nur auf etwas in uns selbst aufmerksam machen.
Übrigens finde ich es sehr schön, dass du so offen mit deiner Mutter (bzw. sie mit dir) über ihre alten Gefühle sprechen kannst. Das ist auch sehr viel Wert! Vielleicht hilft dir auch mein Artikel über den Start ins Muttersein weiter.
Alles Liebe dir!
Christine
Nicole sagt:
Liebe Christine,
ich habe eigentlich nach etwas völlig anderem gegooglet (eine Einrichtung für Babykurse hier heißt „Pusteblume“), hatte aber schonmal deinen Blog gesehen. Jetzt habe ich gerade diesen Artikel gelesen und muss mit den Tränen kämpfen. Unser Mini wird morgen 6 Monate alt. Wir hatten eine schwere Geburt mit Kaiserschnitt nach Geburtsstillstand, KISS-Syndrom, viel viel Schreien in den ersten Wochen und häufigen Gesprächen mit meinem Mann, die darin endeten „Wenn wir das vorher gewusst hätten, hätten wir kein Kind gewollt“. Zeit und Osteopathie haben beim Schreien geholfen. Jetzt schaue ich mir Fotos an, die wir fünf Wochen nach der Geburt haben machen lassen, und ich sehe ein müdes Baby, das echt einen schweren Start ins Leben hatte mit einer langen Geburt, vielleicht sogar Schmerzen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass uns häufig zu viele Ratschläge gegeben wurden („wenn ihr ihn ablegen wollt, wartet 20 Minuten wegen Tiefschlaf“ – anstatt „er braucht eure Nähe“). Ich habe mich wenige Wochen nach der Geburt schon auf einer Kur gesehen, in einer Therapie und überhaupt dachte ich, nie mehr selbstbestimmt leben zu können. Im Nachhinein glaube ich, nur ganz knapp einer Depression von der Schippe gesprungen zu sein. Ich bin sehr dankbar, dass dieses Von-der-Schippe-Springen geglückt ist, fühle mich aber – ähnlich wie du beschreibst – diesen schönen Momenten beraubt. Das Lächeln und das Anschmiegen und das Auf-mir-Schlafen, das ich eine Zeit lang gar nicht genießen konnte. Wie es mir jetzt fehlt! Ich bin aber so dankbar, dass ich die Zeit jetzt noch beginnen kann zu genießen (meistens) – spät, aber nicht zu spät. Danke für die Erinnerung, glückliche Momente festzuhalten und nicht nur im Kopf einzurahmen. Danke, danke, danke für deine Worte, die in mir so sehr widerklingen.
Ich weiß nicht, wie es dir heute geht, weil ich nur diesen Artikel gerade gelesen habe. So oder so wünsche ich dir und deiner Familie alles Liebe!
Nicole
Christine sagt:
Liebe Nicole,
das ist ja witzig, dass du auf der Suche nach dem Babykurs an meinem Artikel hängen geblieben bist :)
Vielen Dank für deine Rückmeldung und dass du uns hast teilhaben lassen an deinen damaligen Emotionen und dem „Sprung von der Schippe“: Das freut mich auch wirklich arg für dich, dass du nicht in eine Depression hineingerutscht bist, sondern nun so früh schon (trotz allem was war) beginnen kannst, das Muttersein immer mehr zu genießen!
Und ich danke dir Von Herzen für deine Wünsche; auch bei mir hat sich noch viel mehr zum Guten gewendet und die Vergangenheit darf nun heilen.
Ich wünsche dir auch alles Liebe und wünsche dir viel Spaß bei den Babykursen in der „Pusteblume“ :)