Mama-Momente

„Mama, hast du mich immer schon geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?

Ich sitze in meinem Lieblingssessel, das Notebook auf dem Schoß, und sortiere Kinderfotos. In wenigen Tagen wird Maxi Fünf. Neben einer Auswahl an Spielsachen wird er dieses Jahr auch ein Fotoalbum geschenkt bekommen. Ganz persönlich von mir gestaltet. Es soll ein Album aus den letzten fünf Jahren, von seiner Geburt bis Heute, werden. Bisher hatte Maxi keins, was nicht nur an der beschränkten Auswahl wirklich hübscher Fotoalben in den Geschäften lag (entweder sind sie nicht kindgerecht oder gleich extrem kitschig), sondern vielleicht auch ein klein wenig an meiner Motivationslosigkeit, dem Aussuchen, Bestellen und Einkleben der zig Fotos genug Raum und Zeit zu widmen. Denn was abertausenden Müttern viel Freude bereitet, war für mich lange Zeit undenkbar: Immer wieder Babyfotos anzugucken, um sich an die schöne Säuglingszeit zu erinnern. Die gab es bei mir nämlich nicht.

Wäre mein Mann nicht gewesen, es hätte wahrscheinlich um ein Vielfaches weniger Bilder von unserer kleinen Familie damals gegeben. Ich hatte keinen Spaß an meinem neuen Leben als Mutter und noch weniger Spaß an meinem Sohn. Und jetzt sollte ich jede Alltagssituation, jeden Spaziergang mit Kind im Kinderwagen fotografieren? Am besten dabei noch fröhlich in die Kamera winken? Mir fiel es schon schwer, vor Freunden und der Verwandtschaft die strahlende Neumutti zu mimen, aber wenn ich nur mit meinem Mann und Maxi zusammen war, konnte ich es erst recht nicht.

Ich klicke auf den Ordner „2012 Schwangerschaft“ und muss automatisch lächeln. Es ist ein zwiegespaltenes Lächeln. Stolz strahlte ich auf den Fotos in die Kamera, strich dabei liebevoll über meinen immer größer werdenden Bauch, der mit Bauchbändern inklusive Aufschriften wie „Baby inside“ und ähnlichem überzogen war. Was hatte ich doch für traumhafte neun Monate gehabt! Und wie glücklich konnte ich mich damals noch schätzen, dass ich noch nichts von meiner albtraumhaften Zukunft nach der Spontangeburt ahnte. Vielleicht gäbe es sonst auch kaum Bilder von meiner Schwangerschaft.

„Mama, hast du mich schon immer geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?„Mama, wie war das, als ich ein Baby war?“ „Habt ihr mich dann auch in einem Kinderwagen geschoben?“ „Habe ich als kleines Kind auch nur Brei gegessen, als ich noch keine Zähne hatte?“ „Wurde ich auch getauft? Wer war bei meiner Feier dabei?“ Es sind Fragen wie diese, die mein noch Vierjähriger in der letzten Zeit immer häufiger stellt. Früher hatte ihn seine eigene Vergangenheit noch nicht so interessiert. Jetzt, wo ich merke, dass er alles über seine Baby- und Kleinkindzeit wissen möchte, komme auch ich raus aus meiner Motivationslosigkeit und stürze mich begeistert auf meine Geburtstagsgeschenkidee namens Fotoalbum.

Gleichzeitig drängt sich mir bei seinen Nachfragen aber auch noch eine andere Frage in mein Bewusstsein: Was werde ich ihm antworten, wenn er mich fragt, ob ich ihn immer schon geliebt habe?

Solche Fragen sind für Kinder in seinem Alter ja nicht ungewöhnlich. Schließlich wollen sie alles ganz genau wissen. Und die Frage nach genug Liebe treibt uns ja irgendwie alle zu jeder Zeit, egal wie alt wir sind, um.

„Mama, hast du mich schon immer geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?Ich klicke mich interessiert durch die Fotos der ersten Lebensmonate. Viele habe ich seit Monaten, manche seit Jahren, nicht mehr angesehen. Bei einigen Bildern staune ich, wie schön sie sind. Wie schön mein Kind war. Eine Schönheit, die ich in Zeiten meiner Wochenbettdepression überhaupt nicht wahrnehmen konnte. Jetzt kann ich es.

Und dennoch, je mehr Bilder ich durchforste, je weiter ich eintauche in die alten Zeiten, umso schwerer wird mir ums Gemüt. Ich merke: Es wird gar nicht einfach für mich, viele schöne Fotos für das Album zu sammeln. Nicht, weil es nicht genug schöne Bilder gibt, sondern weil ich bei den Meisten all die negativen Stimmungen wahrnehme, die ich damals beim Entstehen der Fotos empfunden habe.

„Mama, hast du mich schon immer geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?Jetzt im Nachhinein erschrecke ich mich auch richtig, wie schlecht ich damals aussah. Abgemagert, blass, verhärmt, eben einfach unglücklich. Trotz erzwungenem Lächeln für den Fotografen. Am Schlimmsten ist es auf dem Foto, das einen Tag nach der Geburt entstanden ist, als die nahe Verwandtschaft zum Babygucken vorbeikam. Oma, Opa, mein Mann und ich (mit dem schlafenden Maxi auf dem Schoß), daneben die Urgroßeltern. Ein Mehr-Generationenbild, das ich meinem Sohn eigentlich nur ungern in seinem Fotoalbum vorenthalten will. Glücklicherweise finde ich noch eine Version, in der ich nach unten zu meinem Sohn schaue und man mein verhärmtes Gesicht nicht erkennen kann. Das kommt auf den Stapel der Bilder, die ich bestellen will.

Auch, wenn ich heute nicht mehr unter einer postnatalen Depression leide: Die Erinnerung an alte Zeiten verschwindet nicht. Und vor allem wird sie in den nächsten Jahren immer wieder heraufbeschworen, spätestens bei Maxis Griff in den Bücherschrank, wenn er sich gemeinsam mit mir sein Fotoalbum anschauen und begeistert Geschichten von damals erzählt bekommen möchte.

Ich schließe den Ordner „Fotos 2014“. Für heute habe ich genug Fotos sortiert, jetzt muss ich erst einmal wieder mein Gefühlsleben aufräumen und in die Gegenwart zurückkehren.

„Mama, hast du mich schon immer geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?

Ich bin inzwischen fest davon überzeugt, dass jede, wirklich jede Frau mit der Fähigkeit, ihr Kind zu lieben, geboren wird und zeitlebens ausgestattet ist.

Im Grunde ihres Herzens sind Mitgefühl und Liebe in jedem Menschen in unendlichem Ausmaße vorhanden.

Nur passieren manchmal Dinge im Leben, die ein Herz zumauern und somit den Zugang zu Liebe und Mitgefühl blockieren. Meiner eigenen Erfahrung nach kann diese Vermauerung schon Generationen vorher stattgefunden haben und wird dann unbewusst und vor allem ungewollt von Generation zu Generation weitergegeben.

Eine Mama, die ihr Kind nicht in dem Ausmaße lieben und annehmen kann, wie sie es gerne möchte, kann irgendeinen Teil in sich selbst meist noch nicht annehmen. Aber –und das ist ganz wichtig!- sie trägt keine Schuld. Aber die Ursache liegt auch auf keinem Fall im Kind und das müssen wir unsere Söhne und Töchter immer wieder spüren lassen.

„Mama, hast du mich schon immer geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?Manchmal passieren Dinge im Leben, die passieren einfach. Und da sollte der Fokus auf der wertfreien Suche nach der Ursache und deren Behebung liegen und keine unsinnige Frage nach einem oder einer Schuldigen gestellt werden. Nur so können Blockaden dauerhaft gelöst und Probleme behoben werden.

„Mama, hast du mich schon immer geliebt?“ Irgendwann wird diese Frage kommen. So oder ähnlich. Und dass ich Maxi nicht anlügen und die Zeit beschönigen möchte, das steht für mich außer Frage. Aber trotzdem muss man die Wahrheit ja auch nicht immer schonungslos und knallhart auftischen. Vor allem keinem Kind. Und schon gar nicht seinem eigenen.

In erster Linie möchte ich meinem Sohn jetzt Sicherheit vermitteln. Die Sicherheit, die er damals nicht bekommen konnte.

Vielleicht werde ich Maxi also Folgendes sagen:

„Ich liebe dich! Ganz sehr liebe ich dich! Jetzt und bis in alle Ewigkeit. Weißt du mein Schatz, deine Mama hatte, nachdem du auf die Welt gekommen bist, Depressionen. Was das genau ist, werde ich dir später einmal erklären, wenn du älter bist. Jedenfalls ging es der Mama eine Zeitlang nach deiner Geburt nicht so gut. Sie war oft traurig und ihr fiel es lange schwer, schöne Gefühle zu fühlen. Aber tief in ihrem Herzen hat sie dich immer schon geliebt.“

„Mama, hast du mich schon immer geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?Dass ich mein Kind liebe und irgendwann lieben werde, diese Hoffnung hatte ich bereits zu Zeiten meiner Wochenbettdepression. Ich konnte diese Liebe lange Zeit nicht fühlen, aber meine Hoffnung blieb, dass sie nur verschüttet war. Eingegraben unter negativen Gefühlen, unter all dem Hass, der Wut auf mich, mein neues Leben und mein Kind. Ein versteinertes Herz. Und irgendwann fing diese Last an zu bröckeln. Stein für Stein, bis die Liebe ihren Weg hindurch fand.

Ich werde die Fotos noch einmal durchgehen. Ich möchte nichts beschönigen, aber auch nichts verdrängen. In das Album werde ich meinem Sohn eine großzügige Auswahl seiner Baby- und Kinderfotos einkleben. Das ist schließlich sein gutes Recht. Und wer weiß, vielleicht lösen sich beim gemeinsamen Angucken noch einmal ein paar letzte Steinchen der Ungewissheit. So oder so wird es in jedem Fall ein echtes Herzensprojekt.

3 Gedanken zu „„Mama, hast du mich immer schon geliebt?“ Wie ehrlich antwortet man einem Kind nach schweren postpartalen Depressionen?“

  1. sonja sagt:

    hallo doch nochmal an dieser stelle :-) … hab gesehen – das ist doch aktuell, darum will ich dir noch schnell schreiben: achtung! – nicht das eigene drama dem kind quasi überstülpen – wir müssen unseren kindern kleine, kindgerechte antworten/erklärungen geben, unseren drang, „uns zu erklären“ zurückhalten … die depressionsgeschichte ist noch viele jahre lang nicht sein thema, denke ich – solche dinge zu früh und zu detailreich zu erfahren kann kinder sehr belasten und schädigen … ich denk da jetzt so drüber nach … ja, wir müssen unsere kinder wirklich davor schützen, ihnen erklärungen „aufzudrängen“, die wir in dem moment eigentlich uns selbst geben, mehr für uns als für das kind sagen … ich würde dein kind nicht damit belasten, welche erwartungen du und die gesellschaft an mutterliebe/-schaft hattet, und wie dann die realität aussah – er ist jetzt ein geliebtes kind, und das spürt er ja auch jetzt (ich glaub, meine tochter hat mich noch nie gefagt, ob ich sie liebe – ich glaub nicht, dass diese frage automatisch von jedem kind kommt) … und dieser fotoalbum ist nicht dein album von deinem mutterbeginn, sondern sein album von seinem beginn auf dieser welt – und du warst ja nicht der einzige mensch, der ihn in dieser welt erwartet, in sein leben hineingenommen und geliebt hat … also hilft es vielleicht, deinen blickwinkel da rauszunehmen, und ihn auf den baldigen albumbesitzer zu richten!? … wie dem auch sei, das sind ja nur spontane gedanken – mir sind jedenfalls ein paar formulierungen gekommen, vielleicht passt ja was für dich, darum will ich sie dir hiermit schenken! :-)
    liebe: WIR ZWEI HABEN SCHON IMMER ZUSAMMENGEHÖRT,
    und die liebe zu einem kind (oder auch zu einem menschen), die ist irgendwann einfach da, sie ist in einem drin gewachsen … (ab wann genau? – weiß ich nicht. auf einmal war sie da. und jetzt ist sie da – spürst du sie? :-) )
    mutterschaft: es ist gar nicht so einfach, so richtig eine mama zu werden – das muss man auch erst lernen. ich hab dafür ganz schön lang gebraucht – das ist halt bei jedem verschieden … (und als beispiel vielleicht ihn etwas finden lassen, das er lernen hat müssen; vielleicht auch sagen: mit dem papa-sein ist das genau so – aber der papa hatte das schneller gelernt als ich )
    wichtig finde ich auch: man muss nicht alles unendlich durchdiskutieren und sich dann vielleicht in selbsterklärungen verstricken, die alle überfordern – man darf gespräche auch (auf gute art) im raum stehen lassen, man darf auch sagen (sei es nun wahrheit oder halbwahrheit – denn kinder sind kinder, und nicht erwachsene, und es ist einfach nicht alles in allen details kindgerecht und zumutbar erklärbar) „das weiß ich gar nicht, da muss ich mal drüber nachdenken“ oder „das weiß ich gar nicht mehr so genau“ oder „was glaubst denn du“ oder so …
    bitte von diesem beitrag nehmen, was du brauchen kannst – und lassen, was du nicht gebrauchen kannst! :-)
    liebe grüsse, s.

    1. Christine sagt:

      Liebe Sonja,

      vielen lieben Dank für deine Gedanken, die du dir gemacht hast. Tatsächlich konnte ich aus einigen Denkansätzen etwas für mich mitnehmen <3 Deswegen lasse ich deine lieben Gedanken jetzt auch einfach mal so stehen, um nichts zu zerreden :)

      1. sonja sagt:

        … gut so … :-)

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