Die Schaukel schwingt höher und höher an einem dieser ersten Herbsttage, an denen die Luft schon so klar und dünn ist, dass man unweigerlich zu wärmeren Mänteln und Schuhen, die bis über die Knöchel ragen, greift. In der Nacht hatte sich so viel Kondenswasser an den Rutsch- und Klettergeräten gebildet, dass die meisten von ihnen zum Spielen uninteressant sind, aber die Schaukel bedarf nur einer kleinen Wischbewegung mit der Hand und schon ist sie einsatzbereit. „Mama, schaukelst du zusammen mit mir? Du sitzt unten und ich auf deinem Schoß?“ Ein Lächeln umspielt meine Lippen und schon steuere ich bereitwillig auf meinen Sohn zu, um seinen Wunsch zu erfüllen. Früher hätte ich geseufzt, und jeder Schritt in Richtung meines Kindes wäre von innerem Widerstand ausgebremst worden. Wenn ich überhaupt Ja gesagt hätte, dann nur aus Pflichtgefühl meiner Mutterrolle gegenüber. Aber heute, an diesem frischen Herbsttag, kribbelt es voller Vorfreude in mir und ich spüre eine Woge von Dankbarkeit, dass das Leben mir diesen kostbaren Augenblick schenken möchte, den ich in all meinen Jahren als Mutter nicht als solchen wahrnehmen konnte. Denn mein Jüngster, der mich da zu dem gemeinsamen Höhenflug einlädt, ist nicht mehr drei oder fünf, sondern ein Junge von zehn Jahren, der Spielplätze inzwischen eigentlich für öde hält.
Still war es geworden, die letzten Monate. Nicht nur hier auf dem Blog, sondern auch bei mir. Ich spürte, wie dringend ich einen Rückzug nötig hatte und zog mich, ähnlich einer Raupe, die sich vor ihrer Metamorphose verpuppen muss, so weit in meinen Kokon zurück, wie es mir in meinem Leben mit Mann und zwei Kindern möglich war.
Die letzten elf Mutterjahre waren geprägt gewesen von gefühlt ewiger Aufopferung, Genervt-sein von den Kindern und Widerstand gegen das Muttersein hegen, inklusive all seiner Verantwortung. Entsprechend schlecht gelaunt lief ich durch den Tag und durch mein Leben, das mehr einem Überleben glich, immer den Blick in die erlösende Zukunft gerichtet, wenn die Kinder endlich älter, erwachsen wären und der Umgang mit ihnen angenehm sein würde.
Nicht nur, dass ich innerlich fluchte, ich spürte den Widerstand auch auf körperlicher Ebene als Verhärtungen und Schmerzen, die mich vor allem in der größten Wut heimsuchten. Aber genauso wie ich psychisch und physisch litt, bekamen auch meine Söhne die Auswirkungen meines Dauerfrusts zu spüren, er durchdrang unseren Familienalltag und vergiftete die gesamte Atmosphäre.
Irgendwann waren die Schmerzen und emotionalen Belastungen so groß, die Beziehung zu meinen Kindern dermaßen frostig und unbefriedigend, dass ich mir endlich eingestand, etwas an meiner Haltung ändern zu müssen. Als beide Kinder mir nach einem obligatorischen „Ich hab dich lieb“ meinerseits gestanden, dass sie sich aber nicht geliebt fühlen würden, zog ich die Reißleine und mich instinktiv zurück.
Nicht, um mich von ihnen abzuwenden, sondern um mich mir selbst zuzuwenden, um Trost und Antworten tief in meinem Inneren zu finden.
Mitgefühl, das war es doch, was ich meinen Kindern entgegenbringen wollte. Ich wollte ihnen doch die warmherzige, Geborgenheit-schenkende und fröhliche Mutter sein und keine ewig gestresste, launische und genervte Mama, die alle Nase lang herumkritisierte und mit ihrer Kontrollsucht so viel kaputtmachte!
Aber ständig kamen mir im Alltag ungezogene Kinder, die ich nicht ernstnehmen konnte, dazwischen – wie sollte ich da anders, als korrigieren, herummeckern oder maßregeln?
Oder war nur meine Sicht auf die Dinge verdreht? Musste ich erst das Meckern und Maßregeln sein lassen und meine Kinder ernstnehmen, damit ein neuer Nährboden für unsere Familie geschaffen werden konnte?
Und so begann ich eines Morgens mit der ganz simplen Absicht, ab sofort den Kindern in unseren Begegnungen immer mit einer mitfühlenden und vorurteilsfreien Haltung entgegenzutreten. Ihnen schon mit einer inneren Offenheit und ehrlichem Interesse zu begegnen. Zuzuhören, ohne direkt meinen Verstand innerlich mitplappern und kommentieren zu lassen.
Und bereits nach wenigen Minuten am Frühstückstisch spürte ich, wie gewaltig mein so einfaches Vorhaben eigentlich war.
Um Mitgefühl zu meinen Kindern fließen lassen zu können, so wurde mir bei meinen ersten Versuchen ganz schnell klar, musste ich die ganze Zeit über wachsam sein. Ansonsten rutschte ich sofort wieder in alte Muster zurück.
Die ganze Zeit.
Ich gebe zu: Wäre mein Leiden nicht so stark und das Verhältnis zu meinen Söhnen nicht so erschreckend instabil gewesen, ich hätte ganz schnell wieder aufgegeben.
Aber jetzt half nur noch eins: Dranbleiben, dranbleiben, dranbleiben.
Ich intensivierte meine bis dahin fast eingeschlafene Meditationspraxis, lieh mir etliche Bücher zum Thema Achtsamkeit in der Bücherei aus und lernte: Mitgefühl, Verständnis und diese Wachheit, die es dazu brauchte, konnte ich nur im Hier und Jetzt der Gegenwart aufrechterhalten.
Im Hier und Jetzt leben – klingt das in deinen Ohren auch nach Schnecken-am-Wegesrand-Beobachten und Mit-deinem-Kind-durch-die Pfützen-Springen? Vor ein paar Wochen noch hätte ich nicht mehr als ein müdes Lächeln für solche Gegenwarts-Theoretiker übriggehabt.
Aber den Blick auf das Hier und Jetzt zu richten ist weit mehr, als beim nächsten Spaziergang einmal geduldig den Bordstein mit Kinderaugen zu betrachten.
Es bedeutet, den Fokus ständig und überall auf den jetzigen Augenblick zu legen und das, was darin vorkommt, zu bejahen. Es nicht zu bewerten und bedingungslos zu akzeptieren.
Dann scheren wir uns weder um die Vergangenheit noch sorgen wir uns um die Zukunft – wir kümmern uns nur um das, was jetzt wichtig ist und getan werden muss.
Wenn wir es schaffen, jeden Moment für sich zu sehen und ganz darin aufzugehen, uns unseren Kindern hinzuwenden, ohne die Leiden der Vergangenheit mit hineinzunehmen („Er kriegt es schon wieder nicht hin“) oder die Ungeduld der Zukunft („Wann wird es endlich besser?“), haben wir plötzlich genug Energie für alles.
Widerstand raubt uns Energie und Freude am Muttersein, denn Widerstand bedeutet auch, dass wir das Jetzt, so wie es gerade ist, nicht haben wollen und lieber in der Zukunft wären oder uns zurück nach der Vergangenheit sehnen.
Wenn wir uns nur um diesen Augenblick und seine Sorgen kümmern, entziehen wir uns auf sonderbare Art und Weise dem Zeitgefühl: Plötzlich ist alles nur noch Gegenwart und wir können unseren Kindern eine echte Begegnung und ungeteilte Aufmerksamkeit schenken (da wir mit dem Kopf weder in Vergangenheit noch Zukunft stecken).
Es war nie meine Absicht gewesen, mein Leben nach Buddha-Sprüchen à la „“Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft, konzentriere den Geist auf den heutigen Moment“ zu gestalten.
Ich rutschte beinahe unfreiwillig in dieses Abenteuer namens Gegenwart hinein.
Für mich war das Hier und Jetzt bislang vor allem Mittel zum Zweck gewesen, um weiterzukommen. Vielleicht hatte ich bisher auch zu viel Angst, der vermeintlichen Langeweile, die der Gedanke an das Jetzt in mir auslöste, zu begegnen.
Leben im Hier und Jetzt: Wir wissen gar nicht mehr, wie das geht, wie sich das anfühlt, ganz den derzeitigen Augenblick zu spüren.
Der Verstand wehrt sich dagegen, unser Denken zieht uns ständig in die nahe oder ferne Vergangenheit und Zukunft. („Ich muss noch dies und das machen“, „Hoffentlich sind die Kinder bald älter“, „Hätte ich doch eine bessere Kindheit gehabt“ „Wie mag das gestern im Kindergarten gewirkt haben, als ich dieses und jenes gesagt habe?“)
Das Verweilen im Hier und Jetzt schenkt uns eine Tiefe, die uns zu uns selbst zurückführt und uns, gleich einem Anker, in den Zustand von Ruhe eintauchen lässt.
Die Macht für Veränderung liegt im gegenwärtigen Moment:
Es ist ein erstaunlicher Ort zum Sein.
Eckhart Tolle
Wenn wir es schaffen, gegenwärtig zu bleiben und uns nicht von Gedanken um Vergangenes oder Zukünftiges oder von Bewertungen des Augenblicks („Das ist gut“, „Das ist schlecht“) ablenken lassen, entsteht Raum, indem wir uns aus einer inneren Ruhe voll und ganz unseren Kindern zuwenden können. Unser Handeln hat dann eine ganz andere Qualität, als wenn wir automatisiert und aus dem Affekt heraus reagieren würden.
Das bedeutet natürlich nicht, dass man nie wieder Pläne für den nächsten Geburtstag schmieden, über Einkaufslisten nachdenken oder sich an Vergangenes zurückerinnern dürfte, aber diese Gedanken daran lassen wir in den Momenten zu, in denen es wichtig ist, darüber nachzudenken, wenn sie uns in der gegenwärtigen Situation von Nutzen sind. Und nicht, weil wir uns vom Hier und Jetzt fortwünschen oder die Stimme im Kopf uns die Gedanken ungefragt zwischen die Ohren schiebt.
Ich begann, meinen Kindern wirklich zuzuhören, mit all meiner Aufmerksamkeit, die mir zur Verfügung stand, nicht in Gedanken schon woanders oder das Gesagte bereits innerlich kommentierend.
Ich wartete erst einmal ab, bevor ich mit Maßregelungen um mich schmiss, ob die Situation wirklich so war, wie sie meiner Wahrnehmung entsprach und stellte überrascht fest, dass sich Schimpfen oder Darüber-Ärgern in den meisten Fällen gar nicht lohnte.
Im Grunde geht es darum, jede einzelne Situation nicht zu beurteilen und zu bewerten, sondern so anzunehmen wie sie ist – parallel zu den Kommentaren, Reaktionen und Verhaltensweisen meiner Kinder. Indem man den gegenwärtigen Augenblick erstmal nur beobachtet und nicht gleich interpretiert und innerlich kommentiert, wird der Kopf frei vom Geplapper und macht Platz für eine innere Stille, in der eine Pause zwischen den Gedanken entsteht.
Und diese Stille im Kopf braucht es, um ins Mitgefühl zu kommen.
So einfach wie es klingt, so schwer ist die Umsetzung, wenn der Kopf es gewohnt ist, die ganze Zeit innere Dialoge zu führen und alles, was einem entgegenkommt, kritisch zu beäugen. Aber das Dranbleiben lohnt sich:
War ich innerlich und äußerlich ruhig, kommentierte weniger oder verzichtete darauf, unerbetene Ratschläge zu erteilen und Besserwissereien von mir zu geben, so gewannen umgehend die Gespräche und gleichsam auch die Beziehung zu meinen Söhnen an Qualität.
Ich verordnete mir fortan noch mehr Zeit für Meditation und Innenschau, für Stille und Schweigen und Rückzug. Öfter inspirierende Bücher statt Smartphone, Yogamatte statt Fernsehgerät am Abend. Meine leise Befürchtung, durch die verstärkte Zuwendung zu mir selbst eine noch größere Kluft zwischen mich und meine Kinder zu schaffen, wurde schon allein dadurch im Keim erstickt, als dass ich wusste, dass dieser radikale neue Weg meine letzte Hoffnung war.
Das schönste Geschenk, dass mir meine Bemühungen jedoch einbrachte, waren die Veränderungen im Familienleben, die sich langsam, aber sichtbar, einstellten:
Nicht nur meine Kinder wurden mir gegenüber offener und strahlen mich jetzt plötzlich grundlos an, auch ich habe mich verändert. Ich bin ruhiger geworden und habe aufgehört, immer in Richtung Zukunft zu schielen.
Im Zustand des Hier und Jetzt gibt es auf wundersame Weise auch kein Bereuen der Mutterrolle mehr, auch kein Wünschen, dass die Kinder endlich älter werden, weil man sich immer nur mit der gegenwärtigen Situation beschäftigt.
Ja, im Grunde ist die Gegenwart der einzige Ort, an dem Leben stattfinden kann. Alles andere ist Erinnerung oder Zukunftsmusik, die nur in unserem Kopf passiert.
Ich versuche, während ich mich um den Alltag kümmere, immer mit dem größten Teil meiner Aufmerksamkeit in der Gegenwart verankert zu bleiben. Etwas, das ich früher nie konnte und wollte. Dadurch kann ich mich wirklich auf das, was ist, einlassen, und immer öfter ist das tatsächlich die Freude an meinen Söhnen, die mich im Hier und Jetzt erwartet.
So wie in jenem siebten Jahr meines Mutterseins, als ich für kurze Zeit schon einmal an diesem Punkt war. Damals jedoch ohne zu wissen, wie und warum ich dorthin gekommen bin und wie ich diesen Zustand aufrechterhalten kann, weshalb er nur von kurzer Dauer war.
Die Sonne blinzelt mich durch das Geäst des gegenüberstehenden Ahornbaums an. Immer höher schwingt die Schaukel, bis mein Sohn irgendwann jauchzend in den Sand springt. Auch ich jubiliere, wenn auch nur innerlich, sodass mein Herz der einzige Zeuge meiner Freude ist.
Dieser Moment auf dem Spielplatz wäre noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen. Und nun wurde mir eine kostbare Erinnerung geschenkt, nach der ich damals, mit zwei Kleinkindern im Sand, vergeblich gebuddelt und gegraben hatte: Eine Stunde voller friedlichem Beisammensein, Sandburg-Bauen und Glücklich-Mama-und-Söhne-sein-Dürfen. Im Grunde habe ich noch nie, seit Anbeginn des Mutterseins, überhaupt einen Spielplatzbesuch als entspannt und erfüllend erlebt.
Wer weiß, was mich noch so erwartet.
Ich bleibe wachsam.
Hier und jetzt.
Für alle Bücherfreunde wie mich: Hier ist die Lektüre, die mir sehr dabei hilft, mit meiner Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu bleiben und eine gesunde Distanz zur ewig plappernden und bewertenden Stimme im Kopf zu kriegen:
Eckhart Tolle „Jetzt: Die Kraft der Gegenwart“
Andy Puddicombe „Mach mal Platz im Kopf: Meditation bringt’s!“
Keine Affiliate-Links, d.h. ich verdiene kein Geld mit deinem Kauf. Ich lege sie dir nur aus eigener Erfahrung ans Herz und nicht aufgrund einer Kooperation. Tu‘ deinem Buchhändler vor Ort noch was Gutes und bestelle deinen Wunschtitel bei ihm, z.B. ganz einfach über genialokal.de (hab ich auch letztens erst für mich entdeckt).
Beide Autoren kannst du übrigens auch auf YouTube oder in deinem App-Store finden.
Anne sagt:
Liebe Christine,
es ist so schön, diesen Text hier von dir zu lesen.
Möge es euch wohl ergehen.
Liebe Grüße
Anne
Christine sagt:
Danke dir, liebe Anne!
S. sagt:
Liebe Christine,
dein Text berührt mich sehr. Ich spüre selbst, dass das mein Weg ist als hochsensible Mutter und der einzige, um mich meinen Söhnen wirklich nahe zu fühlen. Die Herausforderung für mich ist, das Hier und Jetzt auch zwischen den Terminen des Alltags, der tickenden Uhr, den Stimmen z.B. aus der Schule („Dein Kind muss bis dahin das und das können“) aufrecht zu erhalten. Ich übe es immer wieder und verstehe durch dich nochmal besser, warum dabei auch der Raum für mich so essenziell wichtig ist. Darin kehre ich zu mir zurück und schöpfe Kraft für diese Präsenz im Alltag.
Anuschka sagt:
Liebe Christine,
ich bin seit langer Zeit mal wieder auf deinem Blog und lese diese Zeilen..Ich freue mich soo sehr mit Dir!
Wie wunderschön!
Ich bin davon grade so weit entfernt, die Zeit mit meinen Kindern genießen zu können und ich weiß überhaupt nicht, wie ich es ändern könnte. Aber das gibt mir ein Fünkchen Hoffnung.
Ich wünsche euch weiterhin viel Freude gemeinsam!
Einfach toll!
Herzlich
Anuschka
Sina sagt:
Liebe Christine,
mit Tränen in den Augen habe ich deine Zeilen gelesen. Es sind Tränen der Freude, Tränen der Hoffnung.
Ich habe heute aus einer Eingebung heraus gegoogelt „was tun wenn ich mein Kind nicht mag“ und „ich möchte nicht mit meinen Kindern spielen“.. und irgendwie bin ich auf deinem Blog gelandet und lese nun schon seit Stunden…
Mit dem Thema Freudlosigkeit hatte ich mich schon mal beschäftigt und war auch da überrascht, dass es da den Fachbegriff Anhedonie dafür gibt. Jedoch haben mir die Lösungsansätze bisher (zugegebenermaßen ohne Therapie, sondern in Eigenrecherche) nicht wirklich geholfen, weil ich gefühlt habe, dass da etwas anderes dahinter steckt. Vor allem mit Dankbarkeit und dem Halt der Familie konnte ich nicht viel anfangen.
Von Regretting Motherhood hatte ich bisher noch nie etwas gehört.
Doch in dem, was du in deinem Blog beschreibst, kann ich mich tatsächlich sehr stark wiederfinden.
Wie soll man auch Dankbarkeit für die Zeit mit zwei wunderbaren Mädchen empfinden, wenn man im Grunde froh über jede Stunde ist, die sie woanders verbringen..
Der Ansatz deines Beitrages vom November 23 gibt mir viel Hoffnung und ich habe mir eben das Hörbuch von Eckhart Tolle runtergeladen und beginne jetzt zu hören.
Viele liebe Grüße und Danke, dass du deine Gefühle teilst
Sina
Janina sagt:
Liebe Christine,
ich bin zufällig auf deinen Blog gestoßen, nachdem ich aus lauter Verzweiflung und Resignation „Mutter lässt Familie hinter sich“ gegoogelt habe. Natürlich weiß ich, dass ich diesen Schritt nicht gehen würde, aber in Gedanken habe ich es mir schon öfter mal vorgestellt. Einfach weggehen und die ganzen Probleme und das stressige aktuelle Leben hinter mir lassen.
Zusätzlich kommen dann oft die Gedanken, dass ich ohnehin in der Erziehung alles falsch mache. Das zieht mich sehr runter.
Schon unmittelbar nach der Geburt meines ersten Sohnes hatte ich anfangs eher ein Gefühlschaos, als richtige Glücksgefühle. Das hat mich ziemlich irritiert. Eigentlich sollte man doch das größte Glück überhaupt empfinden, oder?! Für meine nicht vorhandenen Muttergefühle habe ich mich geschämt. Deshalb habe ich auch mit niemandem darüber geredet. Nur meinen Eltern und meinem Mann habe ich davon erzählt. Allerdings konnten sie es nicht nachvollziehen. Dadurch habe ich mich noch schlechter gefühlt. Mit der Zeit habe ich mich an die neue Situation gewöhnt und die Liebe zu meinem Sohn entwickelte sich immer mehr. Rückblickend denke ich mir immer, es war nicht „Liebe auf den ersten Blick“, sondern erst nach einer Zeit des Kennenlernens. Selbst jetzt, wo diese Worte schreibe, plagt mich ein schlechtes Gewissen, dass es so ist und nicht wie bei den meisten Müttern eine bedingungslose Liebe, sobald sie ihr Kind sehen.
Als ich ungeplant ein zweites Mal schwanger wurde, war ich zunächst ziemlich fertig. Eigentlich wollte ich immer nur ein Kind haben. Ich bin schließlich auch ein Einzelkind und konnte mit dem Gedanken an zwei Kinder nichts anfangen. Auch hier habe ich mich erst im Laufe der Schwangerschaft an den Gedanken zwei Kinder zu haben, gewöhnt.
Nach der Geburt des zweiten Sohnes war es komischerweise ganz anders, als beim ersten Mal. Als ich den Kleinen sah, habe ich direkt gedacht „Er sieht ja aus wie mein Großer früher“. Dadurch habe ich direkt eine Verbindung aufgebaut. Das war alles wesentlich einfacher als beim ersten Mal.
Hier kamen nur recht schnell die Gefühle in mir auf nicht beiden gerecht werden zu können. Und zusätzlich hatte ich nach der Geburt ein schlechtes Gewissen meinem Großen gegenüber. Es tat mir im Herzen leid, dass ich ihm nun seine Stellung als Einzelkind genommen hatte.
Seit der Kleine auf der Welt ist, ist unser Großer viel schwieriger geworden. Er provoziert ständig, hört gar nicht mehr und scheint ständig das Gegenteil von dem zu machen, was man ihm sagt. Anfangs habe ich dieses Verhalten mit der „Trotzphase“ in Verbindung gebracht. Allerdings denke ich mir mittlerweile, dass es wahrscheinlich eher mit der veränderten Familienkonstellation und vermutlich der Eifersucht auf seinen kleinen Bruder zusammenhängt. Mein Kleiner ist nun 1 Jahr alt, der Große 3 1/2. Durch sein Verhalten entsteht ein immer größerer Spalt zwischen mir und ihm und ich frage mich, wie ich diese Beziehung wieder reparieren kann.
Manchmal frage ich mich, ob die Geburt des Kleinen unbewusst einen kleinen Riss in unsere Beziehung gemacht hat und ob mein Großer das vielleicht eher wahrnimmt als ich. Es tut mir im Herzen weh, dass die Situation so verfahren zwischen uns geworden ist und ich wünschte, ich wüsste wie ich das ändern kann.
Tut mir leid, dass ich meinen ganzen Ballast nun hier abgeladen habe, aber alleine dadurch, dass ich es geschrieben habe, fühle ich mich ein Stück weit befreiter.
Ich würde mich auch sehr freuen, wenn hier jemand wäre dem es ähnlich geht und man sich vielleicht mal austauschen könnte. Leider lernt man im Alltag nur wenige kennen, die so offen über diese Themen sprechen.
Viele liebe Grüße
Janina
Christine sagt:
Liebe Janina,
danke, dass du deine Geschichte und deine Gefühle mit uns allen teilst!
Ich glaube, alles, was wir mit einer inneren Haltung des echten Mitgefühls machen, sowohl uns als auch unseren Kindern und Mitmenschen gegenüber, hat eine starke heilende Auswirkung. Wir wollen immer irgendwas „machen“ und in Aktion treten, etwas verändern oder verbessern.
Oft reicht es aber, das, was wir im Alltag und in unseren Begegnungen machen, mit einem gütigen und liebevollen Blick zu tun und den Dingen ihre Zeit zu geben. Genauso, wie du dich auch erst im Laufe deines Mutterseins und der zweiten Schwangerschaft an dein neues Leben und die Beziehung zu deinem Ersten gewöhnt hast, weil du dir die Zeit gegeben hast.
Ich glaube, der Riss, der auf natürliche Art und Weise entstanden ist, birgt viel Potential für Wachstum in eurer neuen Familienkonstellation. Wenn du es schaffst, das als Chance zu sehen und jedem sein „Päckchen“ zugestehst, das er dadurch zu tragen hat, wird allein dadurch schon viel Stress und Spannung weichen.
Ich wünsche dir von Herzen alles Liebe!!
Christine