Lebensfragen

Vergeben ohne Entschuldigung? Der Weg zu Frieden und Freiheit.

Mit dem Vergeben ist das so eine Sache.
Wenn der andere sich aufrichtig entschuldigt, können wir ihm verzeihen.
Vielleicht.
Wenn wir genug Zeit hatten, darüber nachzudenken und in uns hineinzufühlen, ob wir überhaupt an dem Punkt sind, verzeihen zu wollen. Verzeihen zu können.
Vielleicht reicht uns eine Entschuldigung auch nicht.
Vielleicht muss der andere erst Buße tun und Taten sprechen lassen, uns vielleicht über einen langen Zeitraum beweisen, dass er es mit der Entschuldigung wirklich ernst meint. Dass er sich in uns hineinfühlen konnte, sich seiner Schuld bewusst ist und nun alles daransetzt, Wiedergutmachung zu leisten.
Vielleicht muss er sich auch mehrmals oder unter Zeugen, einer gewissen Öffentlichkeit entschuldigen, damit es noch mehr Gewicht hat.

Wenn der andere sich aufrichtig entschuldigt, können wir ihm verzeihen. Erst dann und nur so herum funktioniert Vergebung. So wurden wir erzogen und geprägt. Der Sünder kommt zum Opfer, entschuldigt sich, im besten Fall unter Tränen der Scham, bittet reumütig darum, dass ihm sein Verhalten verziehen werden möge und nun kann endlich Frieden einkehren, wenn wir bereit sind, großherzig zu vergeben.

Auch ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass echtes Verzeihen nur so herum möglich ist. Dass ich meinen Frieden mit dem Schuldigen und seinem Vergehen nur in dieser Art und Weise, in dieser Reihenfolge machen kann.

Bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr hielt ich an diesem Konstrukt fest. Bis dahin litt ich an der kaum vorhandenen Beziehung zwischen mir und meinem Vater. Ich litt unter schmerzhaften Erinnerungen aus meiner Kindheit, als er mich nach der Trennung von meiner Mutter emotional am ausgestreckten Arm verhungern ließ. Ich litt unter dem Rosenkrieg, dem Nicht-Gesehen-Werden, dem Weggucken an falscher Stelle, dem Ausweichen von meinem Bedürfnis nach Nähe, nach Antworten, nach liebender Bestätigung für seine Tochter, bis heute.

Ich wartete auf Entschuldigungen, auf Einsicht, auf Empathie.

Ich weiß zu gut, wie es ist, immer hinter der Liebe seiner Eltern herzurennen, endlich das letzte, entscheidende Bisschen bedingungsloser Liebe und Akzeptanz abzubekommen.

Ich wurde nach der Schulzeit schwer depressiv, flüchtete in psychische Krankheiten, trank zu viel und hungerte auf sämtlichen Ebenen nach bedingungsloser Liebe. Therapiemaßnahmen und Klinikaufenthalte stabilisierten mich, brachten mir aber nicht die Heilung, den tiefen Frieden, nach dem ich mich sehnte.

Ich brach zweimal den Kontakt zu meinem Vater ab, zuletzt 2022, nachdem ich ihm gesagt hatte, dass er sich erst entschuldigen und seine eigene Vergangenheit aufarbeiten müsste, bevor Beziehung zwischen uns (wieder) möglich wäre. Seine Reaktion darauf war Abblocken, Unverständnis und ein weiterer Versuch, unsere Beziehung unter dem Aspekt „Deckel auf die Kiste der Vergangenheit legen und fröhlich weitermachen“ zu führen.

Ich konnte und wollte das nicht. Ich schrieb meinem Vater Lebwohl, zog mich schwarz an, begab mich zu der einsamen Parkbank eines nahegelegenen Sees und setzte gedanklich und unter Tränen unsere Vater-Tochter-Beziehung bei, die es sowieso nie gegeben hatte.

Vergeben ohne Entschuldigung?Gleichzeitig war das die Zeit, in der ich mich zunehmend mit den Themen Mitgefühl, echte, emotionale Nähe zulassen und liebevolle Zuwendung beschäftigte, denn aufgrund meiner eigenen Erfahrungen war auch die Beziehung zu meinen Söhnen schon von Wut, Distanziertheit und unerfüllten Erwartungen ihnen gegenüber gekennzeichnet.

Ich zog mich über Monate immer mehr in mich selbst zurück – nicht wie in meiner hochdepressiven Phase, in der Hoffnung, heimlich irgendwie von der Bildfläche zu verschwinden, sondern diesmal, um meine innere Kraftquelle zu finden und aus ihr heraus Mütterlichkeit leben zu können.

Ich lernte das Schweigen und fand in der Stille den Zugang zu dem tiefsten Frieden, den jeder in sich trägt.

Und je mehr ich zur Ruhe kam, je weniger ich mich ablenkte und vor mir oder vor irgendetwas davonrannte, desto mehr konnte ich den Frieden in meinen Alltag bringen.

Um diesen Frieden in unsere Umgebung bringen und ihn aufrecht halten zu können, müssen wir vergeben.

Ich fühlte, dass Vergebung etwas ist, das der Verstand nicht versteht, weil Vergebung vom Herzen ausgeht.

Vergebung ist der Zugang zum Frieden.

Vergebung bedeutet nicht, die Dinge, die schiefgelaufen sind, schön zu reden. Vergebung bedeutet nicht „Schwamm drüber“ oder, wie mein Vater sagen würde „Deckel auf die Kiste der Vergangenheit legen“.

Vergebung beutet mehr als nur ein „Ich akzeptiere, dass die Person in ihrer Bedürftigkeit nicht anders handeln konnte.“

Vergebung bedeutet, dem Schmerz der Vergangenheit ins Gesicht zu gucken und „Ja“ zu sagen. Ja, dass ein Schmerz da war und noch da ist. Ja zu der Bereitschaft, diesen Schmerz jetzt, in der Gegenwart, loszulassen und an seiner Stelle den Samen des Friedens zu setzen.

Vergebung bedeutet, dem Frieden einen höheren Stellenwert zu geben, als Recht haben zu wollen.

Als ich das fühlen und diesen Frieden für mich verinnerlichen konnte, nahm ich erneut zu meinem Vater Kontakt auf. Ich schrieb ihm einen Brief, indem ich ihm mitteilte, dass ich ihm vergebe für alles, was er mir jemals angetan hatte. Gleichzeitig entschuldigte ich mich für alles, womit ich ihm Schmerzen bereitet hatte.

Es stand von meiner Seite aus nichts mehr zwischen uns. Alle Ängste, Befürchtungen und Rechtsansprüche ließ ich los. Ich wollte sie nicht mehr. Der Schmerz der Vergangenheit löste sich in friedlichem Wohlgefallen auf. Gleichzeitig verschwand meine Bedürftigkeit meinem Vater gegenüber. Ich fühlte, dass ich diese bedingungslose Liebe, die erfüllende Ganzheit nur in mir selber finden würde.

Letztes Wochenende fuhr ich mit meinem Mann und den Kindern die siebenhundert Kilometer zu meinem Vater und seiner Frau, unter deren Kaltherzigkeit ich über all die Jahre genausooft gelitten hatte. Als wir uns umarmten bat ich beide um Vergebung und in ihren Augen glitzerten Tränen der Dankbarkeit, der Erleichterung, der Hoffnung.

Vergeben ohne Entschuldigung?In diesem Moment gab es keine Schuldigen und kein Opfer mehr. Der Frieden der Vergebung umhüllte uns alle und ließ keinen Platz für seine größte Gegnerin, der Angst.

Angst, die uns gerne zuflüstert „Aber was, wenn er/sie es nicht aufrichtig meint? Was, wenn alles weitergeht wie zuvor? Was, wenn er/sie sich nicht ändert? Dann stehe ich doof da mit meiner Vergebung. Dann kann er/sie weiter auf meinen Gefühlen herumtrampeln.“

Ängste halten uns gerne in Schach, wenn wir nicht achtsam genug sind, sie wahrzunehmen. Wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit nicht im Hier und Jetzt sind, sondern schon sorgenvoll in die Zukunft blicken oder uns von Verletzungen aus der Vergangenheit jagen lassen.

Es ist wichtig, dass wir verstehen, dass das Leben nur in diesem Augenblick stattfindet. Vergangenheit ist nur noch in unserem Kopf, genauso wie die Zukunft.
Das, was wir jetzt denken, so, wie wir jetzt handeln, mit diesem „Stoff“ weben wir unser zukünftiges Jetzt.

Viele von uns wollen gar nicht verzeihen, halten gewisse Taten für unverzeihlich. Damit fügen wir uns nur noch weiter selbst Schmerz zu. Wir beharren auf unserem Recht, glauben, den anderen mit unserer Wut bestrafen und klein halten zu können, verschaffen uns damit vermeintlich eine bessere Position, stellen uns über den anderen.

Diese Position verspricht Macht und Recht und Genugtuung.

Frieden und Heilung finden wir dort nicht.

Vierzig Jahre habe ich weder Frieden noch Heilung gespürt. Stattdessen saß ich abwechselnd gedemütigt oder selbstzufrieden auf meinem Opferthron, beharrte auf mein Recht und merkte kaum, wie ich immer verbitterter und innerlich härter wurde. Bis die Beziehung zu meinen Söhnen mir das widerspiegelte.

Das Schöne an Vergebung ist, dass wir nicht auf den anderen warten müssen. Der andere könnte sogar auf seinem Standpunkt beharren und selbst keinen Anlass zum Vergeben erkennen lassen. Der Friede, der aus Vergebung wächst, umhüllt uns genauso sanft wie jene Spitzen, die uns Schmerz zugefügt haben.

In dem Augenblick, als ich meinen Vater und seine Frau in Frieden umarmte, gab es keinen Groll und keine Erwartungen. Es war völlig unbedeutend, dass sie kein „Es tut mir leid“ oder „Verzeih‘ auch uns“ hervorbrachten. Für meinen Frieden brauchte ich das nicht.

Vergeben ohne vorher um Vergebung gebeten worden zu sein.

Vergeben, ohne je eine Entschuldigung zu bekommen.

Ja, das ist eine völlig neue Herangehensweise. Sie erfordert nämlich, die alten Muster nach Recht und Unrecht fallen zu lassen. Nicht gekränkt zu reagieren, wenn der andere nach unserer Vergebung genauso weitermacht wie zuvor, vielleicht sogar noch einen obendrauf setzt und sich nach unserer Bitte um Vergebung bestätigt fühlt, dass er die ganze Zeit im Recht war.

Das ist alles wieder Kopf, nicht Herz.

Das Herz ist gütig und barmherzig. Es lässt Ängste und Rechthaberei an sich abprallen.

Aber wenn wir es schaffen, den Unmut, die Ängste, die Kränkungen und Gehässigkeiten einfach nur wahrzunehmen, uns nicht in sie verwickeln zu lassen, sondern sie einfach nur zu beobachten und unsere friedliche Haltung in die Situation bringen, dann lösen wir all das Negative auf, dann kann es nicht in Resonanz gehen und hat auch keinen Raum mehr.

Vergeben ohne Entschuldigung?Wer sich gekränkt fühlt ist weit entfernt vom Frieden.

Wer vergibt, nur, um gut und großherzig dazustehen, erlebt nicht den tiefen Frieden der inneren Befreiung.

Wer erst vergeben kann, wenn der andere sich entschuldigt hat, der entscheidet sich für Rechthaben statt Frieden.

Wer selbst erst verzeihen kann, wenn der andere um Verzeihung gebeten hat, der entscheidet sich dafür, an Schmerz und Leid weiter festhalten zu wollen, im schlimmsten Falle noch bis zu seinem eigenen Tod, wenn der andere sich nie entschuldigen oder ändern wird.

Entscheiden wir uns für den Frieden, dann können wir ihn hier und jetzt haben. Und unsere Umgebung gleich mitbeschenken.

Das Wochenende bei meinem Vater war der wunderschöne Auftakt zu einem echten Neuanfang. Mein Vater würde vielleicht sagen: „Endlich konnten wir den Deckel auf die Kiste der Vergangenheit legen und fröhlich weitermachen.“ Ich sage: „Durch Vergebung konnte auf den Deckel verzichtet und das Schmerzhafte aus der Kiste befreit werden. Nun können wir fröhlich weitermachen.“

Ich glaube, dass wir unsere Welt, und sei es erstmal nur unsere kleine Welt zuhause, ja, angefangen bei uns selbst, nur friedlich gestalten können, wenn wir uns und den Menschen um uns herum vergeben. Immer und immer wieder. Mehrmals am Tag zu jeder sich bietenden Gelegenheit.

Wenn der andere Autofahrer uns die Vorfahrt nimmt.
Wenn wir uns den Kaffee über die neue Seidenhose kippen.
Wenn die Kollegin herumzickt.
Wenn unser Kind sich nicht an die Abmachung hält.
Wenn wir schon wieder aus Frust zur Schokolade greifen.
Wenn wir schon wieder nicht vergeben konnten.
Wenn wir wieder nach alten Mustern gehandelt und wenig mitfühlend mit unseren Kindern waren.

Und genauso sollten wir lernen, andere um Verzeihung zu bitten. Immer und immer wieder. Auch unsere Kinder, unseren Partner, unsere Freunde.

Unsere Eltern.

Ich verspreche, es tut nicht weh. Es kostet nur Überwindung, die eigenen Ängste und alte Glaubenssätze loszulassen.

Der Frieden ist es wert.

Ein Gedanke zu „Vergeben ohne Entschuldigung? Der Weg zu Frieden und Freiheit.“

  1. Lina sagt:

    Sehr schön.

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