Mama-Momente

Still wie der See

Gerade habe ich das Ufer erreicht. Kalt ist es hier. Kein Mensch zu sehen, nur das Mädchen mit ihrem Hund dreht eine kleine Runde. Ansonsten sehe ich Niemanden. Grau in Grau spiegelt sich der Himmel auf der festen Eisschicht, die sich auf dem See gebildet hat. Die Anlegestelle, an der im Frühjahr wieder Segelboote vertäut werden, ist nun ein fester Bestandteil des Eises. Sie hält genauso Winterschlaf wie die lichten Bäume am Ufer, deren knorrigen Äste sich lediglich vom Wind hin- und herwiegen lassen.

Meine Gedanken kreisen unablässig in meinem Kopf, angetrieben von meiner schlechten Laune. Dabei habe ich doch jetzt kinderfrei, könnte über schöne Sachen nachdenken, anstatt mich weiterhin über die ärgerlichen Ereignisse des Vormittags aufzuregen.

Der Kinderarzt, der fünf Minuten vor Abfahrt anruft, den Vorsorgetermin verschiebt und mir damit die gesamte Vormittagsplanung durcheinander wirft. Mini und Maxi, die partout keinen Mittagsschlaf machen wollen und danach übermüdet knatschen und quengeln. Der Wickelalbtraum aller Mütter: Windeln wechseln im Kofferraum bei zwei Grad über Null. Durchfall und übergelaufene Pampers inklusive. Die zerplatzte Banane, die meine neue Tasche vollgematscht hat. Der Sohn, der nach vier erfolgreichen Wochen Trockensein wieder auf Windeln umsteigen will. Zu viel für meine Nerven.

Still wie der SeeEin kräftiger Wind bläst mir durchs Gesicht. Irgendwo rufen zwei Enten. Der zugefrorene See ist im Sommer Hot Spot Nummer Eins. Dann liegen alle wieder am Ufer, baden im kühlen Nass oder grillen an einem der Campingplätze. Heute ist von alledem nichts zu spüren. Heute ist alles still. Fast schon gespenstisch. Aber noch kann ich die Stille nicht in mich aufnehmen.

Still wie der SeeWie soll ich meinen freien Nachmittag auch genießen, wenn der Vormittag mal wieder so anstrengend war? Wie soll es nur weitergehen mit Maxis Betreuung? Was kommen in Zukunft noch für Katastrophen auf mich zu? Und wie viel Kraft kann ich noch aufbringen, wenn ich nicht mal in kinderfreien Stunden Kraft tanken kann?

Aber dann fällt mir ein Spruch von Buddha ein: „Ganz gleich, wie beschwerlich
das Gestern war, stets kannst du im Heute von neuem beginnen.“ Das bringt meine Aufmerksamkeit augenblicklich auf mein Gedankenkarussell. Und ich erkenne: Wenn ich noch einen entspannten Nachmittag verbringen möchte, muss ich JETZT aufhören zu grübeln.

Still wie der SeeMehr noch: Ich muss mich bewusst dafür entscheiden, mich nicht länger selbst bemitleiden zu wollen, denn nur so kann ich der Entspannung Raum schaffen. Das gelingt mir zunächst über einen Zwischenschritt: Gedanken beobachten, sie nicht bewerten und dann weiterziehen lassen. Wie das Blatt, das auf dem schmalen Stück Wasser zwischen Eisschicht und Ufer dahin treibt.

Denke immer daran, dass es nur eine wichtige Zeit gibt: Heute. Hier. Jetzt.
Leo Tolstoi

An den Vorkommnissen des Vormittags kann ich jetzt eh nichts mehr ändern. Und an den Katastrophen von morgen auch noch nichts. Die Windel ist gewechselt, die Tasche gesäubert und um die knatschigen Kinder darf sich jetzt die Oma kümmern.

Still wie der SeeIch nehme einen tiefen Atemzug. Kalt ist es immer noch hier. Und still. Aber auf einmal kann ich auch den Frieden empfinden, den diese Stimmung zaubert. Die klare Luft wahrnehmen, die meine Seele beflügelt. Und plötzlich ist Raum für Stille in mir. Meine Gedanken hören auf zu kreisen.

Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

So still wie der See.

Titelbild mit freundlicher Unterstützung von © Kristin Wilson, unsplash.com

Ein Gedanke zu „Still wie der See“

  1. sonja sagt:

    Liebe Christine,
    das hast Du so schön geschrieben….
    liebe Grüße
    Sonja

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