Mama-Momente

„Du hast dich nicht mal umgedreht.“ Brief einer erschöpften Mutter

Ich sehe dir nach. Gerade hat deine Omi dich am Busbahnhof abgeholt. Tränen der Erschöpfung bahnen sich leise ihren Weg über mein Gesicht, als ich wieder ins Auto steige. Ich bin am Ende. Ich kann nicht mehr. Und dabei hat der Tag gerade erst angefangen. Aber es ist nicht nur dieser Tag.

Einen Monat bist du nun schon zuhause und ich hatte gehofft, es würde dir dadurch besser gehen. Kein Kindergartentrubel mehr, eine festere Tagesstruktur, mehr Mama um dich herum. Du bist ein überaus sensibles Kind, das schon viel in seinen fast fünf Jahren durchmachen musste.

Ich wollte dir endlich den Halt geben, den ich dir nach der Geburt nicht geben konnte.
Viel ist seitdem passiert. Vielleicht zu viel. Dinge, die Mutterliebe alleine nicht kitten kann.

So sehr ich für dich da sein möchte, so sehr zerbreche ich auch daran.

An Tagen wie heute reicht schon eine übergelaufene Teetasse, die mir die Tränen in die Augen treibt. Du sitzt mir gegenüber und verstehst das nicht. Wie solltest du das auch in deinen jungen Jahren? „Mama geht es nicht gut. Mama ist gestresst“ sage ich, greife zum Telefon und wähle meinen persönlichen Notruf. Viel kriege ich nicht gesagt, aber meine Mutter versteht meinen Hilferuf.

Vier Wochen habe ich bis jetzt gekämpft. Für dich, mein Schatz, für dich und mich. Ich dachte die gemeinsame Zeit mit mir könnte dir am Besten helfen. Dass du zur Ruhe kommst, weil du meinen Halt spürst. Und jetzt wackelt dein Halt. Denn auch ich komme an meine Grenzen.

Ich wusste, dass unser gemeinsamer Weg nicht einfach wird. Aber vielleicht ist er für uns Zwei allein immer noch zu steinig. Vielleicht brauchen wir doch schneller Unterstützung, als ich vor vier Wochen noch angenommen hatte.

Nicht, dass ich da nicht schon vieles in die Wege geleitet hätte. Der Termin beim Heilpädagogen, der Anruf beim Kinderpsychologen. Und nächste Woche gehen wir gemeinsam zum Osteopathen.

"Du hast dich nicht mal umgedreht." Brief einer erschöpften MutterMein lieber Maxi, ich will dich nicht aufgeben, ich möchte dich halten, dich unterstützen und begleiten. Aber in mir ist etwas zusammengefallen. Wie ein Kartenhaus, das ich mühsam aufgebaut habe. Ich glaube es war vor drei Tagen. Du hattest aus heiterem Himmel wieder beschlossen, auf Windeln umzusteigen, dabei warst du schon seit Weihnachten tagsüber ohne Probleme trocken. Am selben Tag erfuhr ich vom Kinderpsychologen, dass der Ersttermin nur mit Glück noch vor Ostern stattfinden würde. Was kann ich noch tun? Was brauchst du jetzt?

Meine Freundin sagt, ich solle Geduld mit dir haben. Ich weiß, dass sie Recht hat. Ich bin zu erschöpft.

Du forderst viel Aufmerksamkeit ein. Sehr viel Aufmerksamkeit. Und dann deine niedrige Frustrationsgrenze. Dein aufbrausendes Verhalten, wenn du mit etwas nicht einverstanden bist. Es ist nicht deine Schuld. Es ist, wie es ist. Aber ich zerbreche daran.

"Du hast dich nicht mal umgedreht." Brief einer erschöpften MutterMeine Zeit für mich, meine Selbstfürsorge steht hintenan. Seit du nicht mehr in den Kindergarten gehst, fehlen mir in der Woche fünfundzwanzig Stunden, die ich zum Kraft tanken benötigen würde. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich merke nur, dass mir diese Stunden fehlen.

Die freie Zeit, die mir bleibt, scheint immer noch zu wenig. Mit halbem Akku lässt sich weniger Fürsorge und Mitgefühl für dich aufbringen. Mit noch weniger Energie tut uns das Zusammensein auf beiden Seiten nicht gut.

Ich versuche alles, was in meiner Macht steht, um deine Seele wieder in Balance zu bringen. Aber ich merke, ich schaffe es nicht alleine. Ich brauche wieder mehr Zeit für mich, um in der anderen Zeit mit ganzem Herzen und vollem Akku für dich da sein zu können.

"Du hast dich nicht mal umgedreht." Brief einer erschöpften MutterUnd gleichzeitig habe ich Angst. Angst vor Ärzten, die deine Lage nicht richtig einschätzen können. Angst vor Betreuerinnen, die nicht einfühlsam genug mit dir umgehen. Angst, dass neue Situationen dich überreizen und überfordern.

Ich kann dich nicht vor dem Leben beschützen und das will ich auch gar nicht! Ich wünsche dir nur genügend sensible Menschen, die achtsam und rücksichtsvoll mit deinem Wesen umgehen.

So wie deine Omi, die dich gerade abgeholt hat.

Ich schaue dir nach, wie du fröhlich an ihrer Hand spazierst. Ich wünsche dir, dass du deinen Frieden findest. Dass du weißt, wie sehr ich dich liebe. Dass ich alles dafür tun werde, damit du ein wahrhaft glücklicher Junge wirst. Ich werde immer für dich da sein. Aber ich muss genauso für mich da sein, damit ich nicht kaputt gehe.

Ich sehe dir nach, wie du in der Ferne immer kleiner wirst, bevor du am Horizont im Bus verschwindest.

Du hast dich nicht mal umgedreht.

13 Gedanken zu „„Du hast dich nicht mal umgedreht.“ Brief einer erschöpften Mutter“

  1. Tanja sagt:

    Liebe Christine,

    ich bin grade erst vor einigen Tagen über Deinen Blog gestolpert. Ich kenne auch nur einen Teil Deiner Geschichte. Über Deine Berichte zur PPD bin ich überhaupt erst hier gelandet.

    Trotzdem möchte ich mich hier nicht wegschleichen von diesem Beitrag. Fühle Dich virtuell gedrückt und verstanden. Viel Kraft!

    Liebe Grüße,
    Tanja

    1. Christine sagt:

      Liebe Tanja,

      sei herzlich willkommen bei mir! Es freut mich, dass du bei deiner Suche nach Berichten zu postpartalen Depressionen auf meinem Mama-Blog gelandet bist! Über deine netten Worte und die liebe Umarmung habe ich mich sehr gefreut! Danke dafür!

      Sei herzlichst zurück gegrüßt,
      Christine

  2. Frühlingskindermama sagt:

    Es tut mir unheimlich leid, das zu lesen, auch wenn ich das nur zu gut verstehe. Du gibst Dein Bestes für Maxi und willst ihm eine geborgene Umgebung ermöglichen, die er so sehr braucht. Gleichzeitig brauchst Du etwas, was dem diametral entgegensteht. Das ist zu schwierig in dieser Konstellation. Ich wünsche euch, dass ihr einen Kompromiss findet, der sowohl ihm als auch Dir entgegenkommt. Ich persönlich denke nicht, dass eine hochsensible Mutter ihr Kind allein zuhause betreuen sollte. Denn wenn diese Mutter immer schwächer wird, spiegelt das Kind das wider. Und schließlich hast Du ja auch noch ein zweites Kind…
    Alles Liebe für euch!

    1. Christine sagt:

      Lieben Dank für deine Worte und deine Anteilnahme!! Wobei ich nicht generell behaupten würde, dass die Kombination hochsensible Mutter + alleinige Betreuung nicht funktionieren kann. Es kommt vielleicht auf das Verhältnis zu den Auszeiten und auch deren Qualität der Erholung an (also nicht spülen und Wäsche aufhängen, sondern Yoga + ein gutes Buch in der Hand, um es mal überspitzt zu sagen).

      Aber ich stimme dir zu, wenn die Mutter keine Kraft mehr hat und am Limit geht, ist auch dem Kind in keinster Weise geholfen. Daran muss ich auf jeden Fall etwas ändern. Wie der Weg konkret aussehen wird, wird sich in den nächsten Wochen wohl zeigen.

      Ganz lieben Dank nochmal für deine Worte und viele Grüße zurück!

  3. Tina sagt:

    Die Welt ist nicht gemacht für kleine, sensible Seelen, das macht es so schwierig. Aber diese Welt braucht diese Seelen ganz, ganz dringend. <3

    1. Christine sagt:

      Das hast du so schön gesagt <3 Danke dafür! Ich bin ganz deiner Meinung! :)

  4. Daija sagt:

    Ich wünschte, ich könnte Dir etwas Hilfreicheres sagen, als „Gib Acht auf Dich“. Ich will keine Plattitüden bemühen, die kennst Du ja zur Genüge. Daher schicke ich Dir virtuell Kraft, und wünsche Dir, dass Ihr eine Lösung findet, die für Euch beide funktioniert.

    1. Christine sagt:

      Liebe Daija,

      ich danke auch dir ganz herzlich für deine Anteilnahme und die Kraft, die du mir schickst! Es tut gut, zu erfahren, dass Jemand an einen denkt und mitfühlt – da braucht es tatsächlich keine großen Worte :-)

      Alles Liebe
      Christine

  5. Christine sagt:

    Liebe Sonja,

    ganz lieben Dank für deine vielen Gedanken und die große Sammlung an Links zum Thema „sensorische Integration“. Tatsächlich habe ich zuvor noch nie davon gehört.
    Zu deinem Vorschlag, beim Spielen mit den Kindern „einfach präsent/anwesend“ zu sein: Die Idee finde ich grundsätzlich gut, die Umsetzung hier gestaltet sich leider schwierig, weil unsere Kinder ein einfaches „rumsitzen“ nicht akzeptieren und mich/uns dann direkt zum Mitspielen auffordern.

    1. sonja sagt:

      hmmm … das müsste man irgendwie kultivieren … so wie „mit strickzeug da sein“ oder „kartoffelschälend“ – und plaudernd, also mit der aufmerksamkeit bei ihnen … dass sehen und verstehen sie dann schon – dass man da ist, aber nicht aktiv mit ihnen sondern passiv …

  6. Flora sagt:

    Liebe Christine,
    Meine Kinder sind bereits 12 und 10 und ich kenne diese Momente als Hs sehr gut. Momentan ist vorallem meine pubertierende Tochter sehr laut und damit für mich wahnsinnig anstrengend. Manchmal darf man mir nicht einmal eine Frage stellen und ich explodiere sofort. Dann gucke ich in die erschrocken oder genervten Gesichter und fühle mich schlecht. Es gibt viele Momente in denen ich mich sehr schuldig fühle wegen meiner Aggression, meiner Lustlosigkeit, meiner Unberechenbarkeit, aber dann versuche ich mir alle positiven Dinge ins Gedächtnis zu rufen die meine Hs eben auch mit sich bringt.

    Bin ich neulich nicht ganz toll auf das chaotische Gedanken Karussel meiner Tochter eingegangen, weil ich es so gut nachempfinden kann? So dass sie anschließend gesagt hat: „Mama, ich bin so froh das du meine Mama bist“

    Hab ich mich nicht stark gemacht um die Bedingungen in der Nachmittagsbetreuung meines Sohnes zu verbessern, weil ich bemerkt habe dass sie ihn belasten?

    Wenn unsere Kinder groß sind werden sie uns bestimmt den einen oder anderen Vorwurf machen (passiert jetzt schon) und dann tun wir gut daran sie ernst zu nehmen.
    Aber sie lieben uns auch genau wie wir sind, dass habe ich mittlerweile begriffen.
    Ich mache wahrscheinlich mehr richtig als falsch. Zumindest versuche ich es von ganzem Herzen.
    Und trotzdem habe ich immer wieder große Angst was die Zukunft betrifft, was wartet noch auf mich, wie geht es aus? Und da ich eine ausgeprägte Phantasie besitze kann ich mir natürlich die schlimmsten Szenarien vorstellen.
    Zum Trost habe ich mir mal dieses Gedicht geschrieben, vielleicht tröstet es auch dich etwas:

    Warum machst du dir Sorgen?
    Was kümmert dich morgen?
    Weiß du denn nicht,
    dass das Licht
    dich ganz besonders liebt?
    Das es nichts zu retten gibt?
    Das alles gut ist wie es ist
    Und wenn du d’ran glauben kannst dann bist
    du allezeit getragen.
    Ja das wollt‘ ich dir sagen.

    Ich wünsche dir und uns allen viel Kraft und Durchhaltevermögen. Und ich bin sehr froh nicht alleine damit auf der Welt zu sein. Danke für deinen ehrlichen Blog.
    Liebe Grüße Flora

  7. Nadine sagt:

    Liebe Christine,
    Ich frage mich grundsätzlich warum wir soooo viele Probleme haben mit unseren Kindern, ich selbst fühle mich genau so wie Du. Und ich glaube es liegt an der Struktur unserer Gesellschaft. Wir Mütter sind viel zu oft alleine mit den Kindern. Es gibt leider keinen „Dorftreffpunk“ mehr an dem sich mehrere Mütter und Omas ,Tanten usw. treffen. Auch dass die Kinder untereinander spielen. Aber die Mamas trozdem in der Nähe sind. Nicht wie in Kindergärten wo man nach der Eingewöhnung nicht mehr erwünscht ist. Ich habe bei einer Schafherde gesehen was ich mir bei den Menschen wünschen würde und frage mich wie es dazu kommen konnte dass wir uns so von unserer Intuition getrennt haben. Ich wünsche Dir viel Kraft dass Du Deinen Weg weiter gehen kannst
    Liebe Grüße

    1. Christine sagt:

      Liebe Nadine,

      die Struktur unserer Gesellschaft trägt sicherlich einen sehr großen Teil dazu bei, dass Mütter wie du und ich oft so gestresst sind und weniger Unterstützung erfahren, als wir bräuchten. Wie du schon sagst, verlieren wir immer mehr die natürlichen Strukturen, die in der Natur noch vorzufinden sind. Gegenseitiges Unterstützen, Großfamilie,… Seit der Industrialisierung lebt jede Familie für sich, die Globalisierung macht es möglich, dass nahe Verwandte am anderen Ende der Welt wohnen. Das will ich beides gar nicht verteufeln, auch ich möchte nicht mehr mit Eltern und Großeltern unter einem Dach leben und selbst entscheiden, ob ich meine Kinder in dem Dorf wo ich aufgewachsen bin, großziehen möchte oder in Timbuktu. Und dennoch findet eine Abgewandtheit, ein Nicht-mehr-hingucken-wollen statt, das sehr unnatürlich ist.

      Ich danke dir für deine Gedanken, die du mit uns teilst und wünsche auch dir alles Liebe und viel kraft weiterhin!

      Herzlichst,
      Christine

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