Lebensfragen

Der innere Kritiker (und was das alles mit meinen Kindern zu tun hat)

Im Herbst letzten Jahres kam ich in die Situation, einen Parkschein ziehen zu müssen. Das kam nicht zum ersten Mal vor, aber ich erinnere mich deswegen so gut daran, da vor mir noch eine Frau stand, die ebenfalls ein Ticket benötigte. Irgendetwas schien sie vergessen zu haben, denn plötzlich hörte ich die Dame lauthals fluchen: „Ach was bin ich denn für eine blöde Kuh! Wie kann man nur so doof sein?“ Sie kramte noch kurz in ihrer Tasche und war dann wieder weg. Mein Herz blutete auf der Stelle und mein Mitgefühl schäumte über: Wie konnte diese Frau nur so unfreundlich mit sich selbst sprechen, ja, sich sogar regelrecht beschimpfen? Am liebsten hätte ich sie sofort in den Arm genommen und ihr gesagt, dass sie keine blöde Kuh ist, egal, was sie vergessen oder versäumt hatte. Ich persönlich komme nie auf die Idee, so herablassend mit mir zu reden, es ist mir völlig fremd. Das dachte ich zumindest bisher. Bis mir die Augen geöffnet wurden, dass ich jahrelang im Irrglauben lebte.

Aufgewühlt schmiss ich mich auf die Couch. Ich war so platt und erschöpft und gleichzeitig voller Adrenalin aufgrund der vorangegangenen Ereignisse. Dabei war es gerade mal kurz vor Acht, morgens wohlgemerkt, und die Kinder soeben mit dem Mann auf dem Weg zur Schule. Aber die letzte Viertelstunde, vor Verlassen des Hauses, ist derzeit die stressigste Zeit des Tages. Trödelnde Kinder, die überall und nirgends herumschleichen, Löcher in die Luft starren oder mit ihren Kuscheltieren auf der Treppe spielen, statt die wichtigen Dinge zu tun, die vor der Schule noch erledigt sein sollen: Frühstücksdosen in den Tornister packen, auf die Toilette gehen, Jacke und Schuhe anziehen zum Beispiel.

Bei jeder Nachfrage meinerseits „Hast du schon…?“ kommt ein „Ach soooo….äh….wollte ich gerade machen“ als Antwort, während der Zeiger auf der Uhr erbarmungslos weiterrückt. Dann werde ich zur Kameltreiberin und gerate in eine Stressspirale, schließlich soll alles pünktlich über die Bühne (in diesem Fall über die Türschwelle) gehen, Schule und Arbeit warten bekanntlich nicht.

Und trotz meiner besten Absichten höre ich mich in solchen Situationen regelmäßig schimpfen, mal leise, oft laut, wie man nur so herumtrödeln kann und verabschiede die Kinder meist hektisch mit einem flüchtigen, manchmal genervt aufgedrückten, Kuss auf die Wange, während mein Mann, der andere Kameltreiber, mein Mitgefühl und einen herzlicheren Kuss bekommt.

Kinder, ey! Wieso können sie nicht einmal mitdenken? Sie wissen doch, was sie noch alles machen sollen und dass wir uns beeilen müssen! Die wollen mich doch absichtlich ärgern!

Ich glaube, jeder hat schon mal von dem inneren Kritiker gehört. Es ist jener Teil in uns, den wir in der Regel nicht mögen. Denn er mäkelt gerne an uns herum, findet uns zu dick, zu hässlich, zu sonstwas. Er bemerkt unsere Fehler garantiert schneller als andere und schmiert sie uns sofort aufs Butterbrot, so dass wir nicht daran vorbeikommen. Leider haben wir gelernt, uns mit ihm zu identifizieren, fühlen uns tatsächlich zu dick, zu hässlich und zu unvollkommen und lassen uns von ihm so durch den Alltag tragen, weil er nicht aufhört, uns ständig daran zu erinnern. Denn der innere Kritiker spricht mit unserer eigenen Stimme, sodass wir ihn nicht sofort als übernommene Glaubenssätze von früher oder als den O-Ton unserer Eltern erkennen können.

Der innere Kritiker (und was das alles mit meinen Kindern zu tun hat)Dann haben wir vielleicht als Kinder schon zu hören bekommen, dass wir doch hübscher sein könnten, wenn wir uns mal um unseren Babyspeck kümmern würden. Oder dass wir es ohne Abitur eh zu nichts brächten. Und zu allem Überfluss haben wir uns womöglich allein für unser Dasein geschämt und schuldig gefühlt.

Aber irgendwann zwischen Pubertät und erwachsener Frau beschloss ich, dem inneren Kritiker Einhalt zu gebieten. Seither spreche ich absolut wohlwollend mit mir, beschimpfe mich nicht, wenn mir etwas herunterfällt und versuche, auch meine Mitmenschen dahingehend zu sensibilisieren, wenn sie mal wieder zu hart mit sich ins Gericht gehen.

„Schatz, ich frage mich manchmal ernsthaft, ob die Kinder nur Stroh im Kopf haben, so dämlich, wie die sich gerade wieder angestellt haben! Die Regel haben wir doch schon x-mal erklärt, wie können sie die jetzt wieder vergessen haben?“ Genervt rollte ich mit den Augen und stöhnte – wahrscheinlich zum zwanzigsten Mal an diesem Tag.

Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass die eigenen Kinder einem ganz oft den Spiegel vorhalten, konnte ich damit noch nichts Konkretes anfangen. Sicher, Kinder legen oft den Finger in offene Wunden, die uns weh tun oder drücken bei uns Knöpfe, bei denen wir sofort in die Luft gehen könnten. Aber so richtig greifbar war das mit dem Spiegeln bisher nicht für mich. Bis ich per Videoclip das Referat einer Pädagogin über den inneren Kritiker anschaute:

„Wenn wir so mit uns selbst schimpfen und das den ganzen Tag lang, dann macht das etwas mit uns! Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir abends platt sind und schlechte Laune haben. Und selbst dann machen wir uns noch fertig, weil wir auch noch schlechte Laune haben!“

Ja, die armen Leute, die mit sich immerfort so abwertend sprechen. Mir taten sie leid. Zum Glück hatte ich dieses Problem schon vor langer Zeit abgeschafft, auch, wenn ich mich manchmal wunderte, wie einfach das ging. Ich lehnte mich innerlich zurück, während die Pädagogin weitersprach:

„Um zu verdeutlichen, was diese negative Ansprache den lieben langen Tag mit uns macht, stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie würden nicht mit sich selbst so überkritisch und herablassend sprechen, sondern mit Ihren eigenen Kindern! Jeden Tag. Von morgens bis abends. Das würden Sie sicherlich nicht machen, wenn Sie hinspüren und merken, was das für Ihre Kinder und deren Entwicklung bedeuten würde…“

Die Pädagogin in dem Video erklärte noch mehr, aber ich hörte ihr schon nicht mehr zu. Sie hatte bei mir den Nagel auf den Kopf getroffen und innerhalb von Sekunden traf es mich wie der Blitz: Das war es! Genau das tat ich doch bereits ständig (zumindest gefühlt war es mein roter Faden): Meine Kinder für ihre Schwachheit und ihre kindlichen Verhaltensweisen zu verachten. Nicht, dass ich sie dabei ständig verbal beschimpfte, aber die Grundhaltung in meinem Kopf war in diesen Momenten Abwertung.

Das an sich war mir leider nicht neu, nun aber verstand ich, dass diese Haltung eigentlich mir selbst galt.

Der innere Kritiker (und was das alles mit meinen Kindern zu tun hat)Wo andere sich selbst beschimpfen, lasse ich das an meinen Kindern aus. Ich hatte geglaubt, ich wäre frei von diesen negativen Selbst-Beschimpfungen, bis ich verstand, dass ich diese vernichtende Kritik gegen meinen machtvollsten Spiegel meiner selbst richte: Meine eigenen Kinder.

Das ständige Augenrollen im Beisein meiner Kinder, Gedanken wie „Wie kann man nur so doof sein?“, all das sind eigentlich Sätze, die ich dem schwachen Teil meiner selbst zukommen lassen würde. Aber diese vernichtenden Worte halte ich nicht aus, nicht mal von mir selber.

Als Kind war ich schwach und hilflos. Und ich verstand: Um mich heute stark zu fühlen, wende ich die aufkommende Hilflosigkeit gegen meine Kinder, die noch schwächer sind, um mich nicht selbst wieder schwach und klein fühlen zu müssen, um Herr der Lage bleiben zu können. In der Tiefenpsychologie spricht man auch von „Täterintrojekt“, wenn man sich aufgrund von überwältigender Angst im Traumageschehen mit der Täterrolle, dem Aggressor, identifiziert, um nicht noch einmal die Rolle des Opfers durchleben zu müssen.

Ich weiß, dass meine Eltern meine Sensibilität und meine Schwachheit abgelehnt haben. Ich selbst empfand diese Eigenschaften bei mir nie als negativ. Allerdings, wenn ich nun betrachte, was ich an meinen Kindern ablehne: Ihre Hilflosigkeit, die Unfähigkeit sofort alles zu durchblicken, vor allem aber ihre Unsicherheit, dann sind das auch alles Formen von Schwachheit. Und was ich an meinen Kindern ablehne, lehne ich in Wirklichkeit an mir selbst ab. Nur konnte ich mir das bisher nicht eingestehen.

Nachdem sich die Puzzleteile neu zusammenfügten, fiel mir noch etwas auf: Zuerst wurde mir mit Schrecken noch einmal mehr bewusst, wie sehr meine Kinder die letzten Jahre genauso unter meinen Entwicklungstrauma leiden mussten, wie ich selbst: Die ganzen Seitenhiebe, sarkastischen Bemerkungen und lauten Seufzer, wenn ich mich über ihr Verhalten aufregte, waren objektiv gesehen wahrscheinlich gar nicht angebracht gewesen, sondern nur mein Ventil, um mich selbst nicht abwerten zu müssen. Im Endeffekt litten wir aber zu Dritt darunter. Vor allem das Selbstwertgefühl meiner Kinder.

In dem Wissen, dass negative Bemerkungen meinen Kindern gegenüber (egal, ob ausgesprochen oder nur gedacht) eigentlich gegen mich selbst gerichtet sind, habe ich nun ein neues Bewusstsein dafür geschaffen, noch einmal darüber nachzudenken, bevor ich einfach losschieße. Denn wie eingangs erwähnt: Ich möchte nicht so negativ mit mir sprechen, auch nicht mit meinem Spiegel! Vielleicht ist das ein weiterer Schlüssel zu meiner Heilung.

Interessanterweise hat mich meine neuste Erkenntnis ein Stückchen näher zu meinen Kindern gebracht. Das, was mir fehlt, seit ich Mutter bin, nämlich die natürliche, mütterliche Bindung, wurde nun wieder ein bisschen stärker. Mit dem Wissen, dass wir alle Drei unter meinem inneren Kritiker leiden, habe ich nun auch die Möglichkeit zu lernen, mit ihm umzugehen.

Der innere Kritiker (und was das alles mit meinen Kindern zu tun hat)Dafür ist es wichtig, dass ich den inneren Kritiker nicht als Teil meiner selbst betrachte und mich von ihm distanziere: Er ist kein Teil von mir, mit dem ich auf die Welt gekommen bin, sondern ein verselbstständigter Teil, der von früher kommt, z.B. von kritischen Stimmen meiner Bezugspersonen oder aus Scham- und Schuldgefühlen entwachsen. Solange ich mich mit den inneren Stimmen komplett identifiziere habe ich kaum Chancen, einzugreifen oder sie zu verändern.

Es geht dabei jedoch nicht darum, den inneren Kritiker loswerden oder bekämpfen zu wollen. Der innere Kritiker hat nämlich auch eine gute, schützende Funktion! Hilfreich ist es in erster Linie, den Kritiker folgendes zu fragen: Wozu bist du da? Wovor wolltest du mich damals beschützen? Liebesentzug, Scham- und Minderwertigkeitsgefühle sind vor allem meine Themen. Auch die Arbeit mit meinem inneren Kind hilft mir dabei, da die verletzten Anteile vehement ihre unerfüllten Bedürfnisse einfordern.

Das für mich bisher beste Buch zum Thema Innerer Kritiker stammt von Barabara Berckhan: „So bin ich unverwundbar“. Es zeigt wunderbar bildhafte Ansätze, wie wir uns mit dem inneren Kritiker arrangieren können und gibt uns Möglichkeiten an die Hand, wie wir uns nicht immer alles zu Herzen nehmen. Weder Bemerkungen von Fremden noch emotionale Ausbrüche unserer Mütter. Gerade Hochsensiblen würde ich es sehr empfehlen! Allerdings wird das Thema Trauma nicht darin erwähnt und behandelt, es ist somit auch keine schwere Kost.

Einmal dafür sensibilisiert, fällt mir auf, wie oft ich an den Kindern eigentlich herummäkle – und wenn es meist nur auf subtile Art und Weise passiert. Das Spannende ist: Wenn ich die Distanz zu meinem inneren Kritiker schaffe, ebne ich gleichzeitig auch den Weg für mehr Mitgefühl zu meinen Kindern. Dann steigt in Zukunft hoffentlich auch viel öfter das Bedürfnis in mir auf, meine Kinder umarmen zu wollen, wenn sie emotional gefangen sind, statt wildfremde Frauen am Parkscheinautomaten.

5 Gedanken zu „Der innere Kritiker (und was das alles mit meinen Kindern zu tun hat)“

  1. Tanja sagt:

    Dankeschön für deine schönen Worte, ein großartiger Spiegel für mich. Ich fühle mich schon sehr bewusst und freue mich drum umso mehr, wenn es da noch etwas gibt, das ich integrieren darf.

    Ich wünsche dir und mir und allen, die jetzt auf dieses Thema aufmerksam geworden sind von Herzen alle nötige Kraft und innere Ruhe, diese schöne Arbeit erfolgreich zu bewältigen.

    Alles Liebe und Gute!
    🙏
    Tanja

  2. Nova sagt:

    Erstaunlich, wie sehr ich Dich in mir erkenne. Toller Beitrag. Danke!

    Deine Nova ❤️

  3. Jacqueline sagt:

    Buchempfehlung bzgl. Kindheitstrauma und wie es sich auf das ganze Leben auswirken kann: Das Drama des begabten Kindes, von Alice Miller.

  4. Birgit sagt:

    Hallo Christine,

    erstaunlich die Tiefe in Deinen Betrachtungsweisen :-)
    Ich selbst habe beschlossen, dass ich nicht mehr mit meinen Kindern kämpfen werde sondern sie selbst schonungslos und entspannt die Folgen ihres Tuns bzw. Nichttuns einfach spüren lasse; das ergibt den grössten Lernschub…. Und dabei muss ich gar nicht rumschimpfen, meckern, anstossen, vorantreiben, abwerten….
    Z.B. abends ins Bettgehen (immer Theater!!!): Ich lege mich stattdessen entspannt in mein Bett mit einem Buch und verkünde lauthals nach draussen: „Nein, ich komme nicht raus! Ich entspanne mich gerade hier. Ich komme erst raus, wenn Ihr Euch bettfertig gemacht habt…..“. Dann höre ich grosse Betriebsamkeit draussen, das Wasser rauscht im Waschbecken, Füsschen trappeln hin- und her. Und irgendwann: Klopf Klopf „Mama, kommst du jetzt raus?“ Ich rufe dann durch die Tür: „OK, habt ihr X X X und X erledigt (also Schlafi anziehen, Zähne putzen, Grundhygiene, Schulzeug/Sportzeug richten, Kleider richten)?“. Wenn Nein –> „Tja, müsst ihr noch machen, ich entspanne mich derweil weiterhin hier“ oder „Gut, dann komme ich raus und lese Euch eine Geschichte vor :-)“
    So kommt man ziemlich entspannt durch den Abend und muss nicht stinksauer auf seine Kinder sein. Die Kinder sind maximalst selbständig und selbst für ihr Zeug verantwortlich…
    Dasselbe morgens beim Anziehen sage ich ganz cool „OK, dann nehmen wir einfach Deine Kleider mit und Du ziehst Dich auf der Schultoilette an“. Wenn sie ihr Sportzeug vergessen, dann müssen sie halt die Konsequenzen tragen und in Unterwäsche turnen etc…
    Die Hauptsache ist: Man kann Kindern keine Verantwortung beibringen oder zeigen. Man muss sie ihnen einfach geben. Seitdem muss ich weniger häufig sauer auf meine Kinder sein. Buchtipp: „Kinder lernen aus den Folgen“…..

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