Manchmal geschehen Veränderungen so langsam, fast schon unmerklich, dass man erst mit großem Abstand bemerkt, wie gewaltig sie dennoch sind.
Ich erinnere mich an eine Begebenheit vor einigen Jahren, als mir eine Blogleserin die Härte rückmeldete, die in meinen Texten zu spüren war. Zu dieser Zeit fand ich meine Ausdrucksweise nur legitim. Der Schmerz des Bereuens, der Widerwille gegen mein Leben als Mutter, all mein Frust entlud sich in unzähligen Blogtexten und las sich wie bissige Verachtung gegenüber allem, was angeblich -und in meinen Augen damals zu Recht- schuld an meiner Misere war.
Im ersten Lebensjahr meines Jüngsten, 2013, hatte ich den Blog gestartet. Mit den Jahren wurde das Schreiben zum Kanal für mich, meiner Depression und meiner Wut einen Weg nach außen zu bahnen, um nicht innerlich davon zerfressen zu werden.
Ich wollte meine Freiheit erkämpfen, in dem Glauben, irgendwann mit gutem Recht und bestärkt von all jenen, die ähnlich fühlten, auf dem inneren Gipfel der Gerechtigkeit zu stehen, so dass die Widrigkeiten weiter unten mich nicht mehr erreichen könnten. Ich legte mir einen Schutzpanzer aus Härte und Sarkasmus zu, damit mein Schmerz und meine tiefsitzenden Ängste mich nicht berühren würden.
Heilung fand ich durch mein Jammern und Anklagen nicht. Im Gegenteil.
Meine Depressionen nahmen nicht ab, mein Widerstand gegen das Leben wurde immer größer, meine Sehnsucht nach kinderlosem Dasein schnürte mir die Luft ab und erstickte mich fast. Körperlich manifestierte sich in Zeiten der größten Wut die Härte als überwältigende Schmerzen im Unterleib, während negative Gedanken ohne Unterbrechung in meinem Kopf Karussell fuhren, eine Runde nach der anderen, und ich nicht mal merkte, dass ich mitten drinsaß, in der Gondel.
Bis eines Tages der Moment der Kapitulation kam, als meine Verzweiflung einen weiteren Höhepunkt erreicht hatte, an dem ich zusammensackte und das Bereuen meiner Mutterrolle und meine Sehnsucht nach kinderloser Freiheit endlich vollends akzeptierte. Ich nahm diesen Zustand nicht nur an, ich erlaubte es mir auch, weiterhin so fühlen zu dürfen. Ich gestand mir zu, dass es okay war. Dass meine Gefühle okay waren. Dass ich okay war. Egal, was die Familie oder die Gesellschaft über mich denken würde.
In dieser Zeit der Erlaubnis begann ich, innerlich weicher zu werden und öffnete mich bereitwillig all dem Schmerz. Der Schutzpanzer aus Härte wurde durchlässig für alles, was sich davor angesammelt hatte; alle Gefühle der Scham, der Trauer, der Erniedrigung und der Schuld.

All die beschämenden Gefühle drangen zu mir durch. Ungezähmt und ungestüm. Und gleichzeitig wurden sie von einem noch größeren Gefühl aufgefangen: Es war das Mitgefühl.
Mitgefühl für mich und meine eigene Geschichte, Mitgefühl für meine Kinder, wie sie unschuldig litten, sowie Mitgefühl für all die anderen Mütter, die meinen Schmerz kannten und teilten.
Da war nun dieses Mitgefühl, als hätte es die ganze Zeit nur geduldig auf mich gewartet, dass ich es unter meinem Schutzpanzer entdecken würde, um mich sanft von ihm einhüllen zu lassen!
Und so sah ich es an jenem Tag im Januar 2023, als ich das Bereuen als Teil von meinem Muttersein akzeptierte als meine einzige Chance, die völlig vermurkste Beziehung zu meinen Kindern irgendwie aus dem Dreck zu ziehen, wenn es mir gelänge, Mitgefühl für sie zu entwickeln.
Ich müsste sehr achtsam sein, völlig auf die Gegenwart konzentriert, um sie wirklich mit ihren Bedürfnissen sehen, ihnen aufmerksam zuhören zu können. Von dem Moment der Einsicht an wollte ich respektvoll und gütig mit ihnen sein.
Es war die beste Entscheidung und zugleich die schwierigste Herausforderung meines Lebens! Denn unsere eingefahrenen ablehnenden und zweifelnden Kräfte sind stark. Sie schieben sich immer wieder in den Weg zwischen uns und unser Herz. Wir brauchen Fokus, sanfte Beharrlichkeit und liebevolle Zuwendung. Für unsere Kinder, aber in erster Linie für uns selbst!
Um an unser Mitgefühl zu gelangen, dürfen wir nicht Ausschau halten nach dem verlockenden Notausgang, der uns von unseren unangenehmen Lebensbedingungen wegführt. Wir müssen uns mutig unserem Schmerz zuwenden, der uns mitten in unser Herz hineinführt, damit es behutsam heilen darf.

Zweieinhalb Jahre ist es nun her, dass ich den sanften Weg gehe. Er ist nicht geradlinig, er hat Höhen und Tiefen, ist mit Stolpersteinen und Löchern, in die man fallen kann, gepflastert. Oft verrenne ich mich und finde mich plötzlich auf dem alten, harten, betonierten Weg wieder. Man muss achtsam sein, um den sanften Pfad nicht aus den Augen zu verlieren. Aber je mehr man sich bemüht und liebevoll mit sich selbst ist, desto leichter wird es.
Ja, liebevoll mit uns selbst sein, das können und gönnen wir uns oft nicht.
Stattdessen beschimpfen und verurteilen wir uns härter, als es Außenstehende jemals tun würden. Wir treiben uns innerlich zur Perfektion, zur vermeintlich besten Version unserer Selbst. Wir lehnen unsere schwache Seite und unsere Unzulänglichkeiten ab, wir kämpfen uns durchs Leben, wir vergleichen und optimieren, wir ackern und rackern uns ab.
Wir meinen, wir seien wertlos und würden von der Bildfläche verschwinden, wenn wir innehalten und einfach nur annehmend sein würden, mit allem, was wir sind.
Seitdem ich mitfühlender mit mir selbst umgehe, gelingt es mir auch zunehmend leichter, meine Kinder und mein Leben so sein lassen zu können, wie sie sind. Ich erkenne, dass ich nichts in meinem Leben wirklich unter Kontrolle habe und erlaube es mir Stück für Stück, meine Ängste und Erwartungen vertrauensvoll abzugeben.
Auch das ist ein Prozess, der nicht einmalig ist. Es ist eher ein vorsichtiges Verschieben meiner eigenen Komfortzone in Richtung Loslassen. Zentimeter für Zentimeter. Inklusive Pausen und Rückschläge. Aber auch diese werden milder.
Ich habe die Zuversicht, dass sich alles so entwickelt, wie es soll. Wissen tue ich es natürlich nicht. Aber die Hoffnung schenkt mir einen leisen Frieden, wie ich ihm in meinen ängstlichen Zukunftsvisionen nicht begegne.
Insgesamt ist unser Familienleben deutlich ruhiger und ausgeglichener geworden.
Meine Kinder haben nun die Vorstufe der Pubertät erreicht, kommen in den Stimmbruch und machen die ersten Erfahrungen der Verliebtheit. Sie tragen Baggy Jeans statt „Paw Petrol“-Pullovern, messen sich in Online-Spielen mit ihren Klassenkameraden und bitten uns, uns in der Öffentlichkeit nicht peinlich zu benehmen.
Gleichzeitig fühle ich ihre Verunsicherung, wer sie sind und was das Leben noch so zu bieten hat. Gegenseitige Beschimpfungen und die typische Rotzigkeit von Teenies brechen immer wieder durch das Gackern über einen Kinderwitz oder dem Bedürfnis nach Mama‘s Vorlesen einer Gute-Nacht-Geschichte (nur, dass es jetzt „Die drei ???“ sind und nicht mehr „Pettersson und Findus“).

Sie stehen auf der Schwelle zwischen Kind sein und Erwachsen-werden-Wollen.
Eine Phase, die auch für uns als Eltern nicht einfach ist.
Und dennoch halte ich gerade jetzt an sanftem Mitgefühl und wertfreier Kommunikation ohne Schuldzuweisungen fest. Versuche, meinen Söhnen immer dort zu begegnen, wo sie hier und jetzt stehen, ohne Erwartungen, wie sie doch bitte schön zu sein hätten. Leicht ist das nicht zwischen vergessenen Hausaufgaben und herumliegenden Schokoladenpapier im Kinderzimmer.
Aber auch hier braucht es vor allem Mitgefühl für mich selbst. Wenn mir doch mal wieder der Kragen platzt aufgrund ihrer Unachtsamkeit, erinnere ich mich so sanft wie möglich daran, mir selbst wieder achtsamer zu begegnen und meine Zeiten zum Auftanken im Auge zu behalten.
Und je mehr Wohlwollen ich mir und meinen Kindern entgegenbringe, desto zugewandter reagieren sie.
Wir sind alle in unserem Leiden miteinander verbunden, niemand führt ein schmerz- oder angstfreies Leben. Indem wir uns selbst freundlich behandeln, können wir auch den Schmerz der anderen besser erkennen. Auch den unserer Kinder.
Früher dachte ich, ich müsse meine negativen Gefühle wie Wut, Hass oder Bedauern herauslassen, meine Ängste und Schwächen verurteilen, um sie loszuwerden. Heute ahne ich, dass es mehr Wert hat, sie beim Entstehen zu beobachten und mich ihnen bereitwillig zuzuwenden, um ihnen dadurch die Schärfe zu nehmen, auf dass sie sich vielleicht sogar von selbst behutsam verwandeln.
Wir können so viel in und über uns entdecken, wenn wir den Mut aufbringen, uns unseren Ängsten zu öffnen.
Stück für Stück, Atemzug für Atemzug, sanft, aber beharrlich.
(Fotos mit freundlicher Unterstützung von © Luisa Azevedo (Titel), © Ali Karimiboroujeni, © Geranimo, © Shyamli Kashyap, unsplash.com)