Gesellschaft

Wieviel Muttergefühl braucht unsere Gesellschaft?

Was bedeutet es, der Wissenschaft mehr zu vertrauen als dem eigenen Gefühl? Irgendwie scheint mir das in unserer westlichen Gesellschaft zur Grundhaltung geworden zu sein. Aber ist das wirklich so erstrebenswert? Sind Muttergefühle wirklich aus der Steinzeit und nicht mehr wichtig für unsere Entscheidungen, für unsere ganze Gesellschaft?

Oh ja, Muttergefühle sind in unserer Gesellschaft durchaus erwünscht. Wenn Mami sich an ihrem Neugeborenen erfreut. Oder wenn ihre Gefühle die Wirtschaft ankurbeln (man denke nur an all die Konsumgüter, die Mutterherzen höher schlagen und zur Kreditkarte greifen lassen). Aber wehe, Muttergefühle kollidieren mit der Lehrmeinung der Wissenschaft. Dann werden sie mit allen Mitteln nieder gemacht, ihrer Glaubwürdigkeit beraubt und als Gefühlsduselei belächelt, wenn nicht sogar als fehlgeleitet bezeichnet.

Nein, ich möchte die Wissenschaft gar nicht verteufeln. Wissenschaft kann Studien einläuten, Erkenntnisse sammeln und Theorien aufstellen, die sich anhand von nachweislich geprüften Erfahrungswerten bewährt haben. Die Wissenschaft kann mir und meinem Kind aufgrund vieler Erfahrungswerte sagen, welche Entwicklungsschritte Kinder generell in welchem Alter durchmachen.

Das ist für mich als Mutter hilfreich, wenn ich eine Orientierung brauche, ab wann mein Kind etwa sprechen, laufen oder Empathie entwickeln kann.

Es ist für mich jedoch nicht hilfreich, wenn ich diese Werte als Dogma sehe und mein Kind in das wissenschaftliche Schema quetschen möchte. Und das nicht aus böser Absicht heraus, sondern möglicherweise, weil ich verunsichert bin. Immerhin möchte man mit der Norm der Gesellschaft mithalten. „Was, dein Sohn kann noch nicht laufen?“ „Wie, ihr Wortschatz umfasst noch keine dreißig Wörter?“ Wie soll man da als Mutter, als Vater entspannt bleiben und jedes Mal mit „Das kommt schon noch, dann braucht mein Kind eben länger dafür als Andere“ antworten?

Wenn wir Mütter an einem Punkt in der Erziehung sind, an dem wir nicht mehr weiter wissen (und das kommt ja ständig vor), fragen wir Andere. Kinderärzte, Erzieherinnen, Psychologen. Versteh mich nicht falsch, es geht mir nicht darum, genannten Personengruppen ihre Kompetenz abzusprechen. Wir können nicht alles wissen und es ist wichtig, bei seelischen und körperlichen Beschwerden oder Erziehungsfragen einen Fachmann aufzusuchen. Oft wäre es sogar fahrlässig, dies nicht zu tun.

Wenn sich hinter der Sprachfaulheit der Tochter eine ernsthafte Störung wie selektiver Mutismus verbirgt oder der Einjährige nur deswegen „mal wieder nicht hören will“, weil er es aufgrund von Taubheit einfach nicht kann, dann ist das natürlich ein Grund zum Arzt zu gehen und nicht mit den Worten „Das wird schon noch“ abzuwiegeln.

Aber dennoch plädiere ich für mehr Berücksichtigung, für mehr Gefühl für die Individualität des Einzelnen.

Denn ich habe den Eindruck, dass wir in unserer Gesellschaft über einen bestimmten Punkt hinaus sind, dass wir auch dann einen vermeintlich Schlaueren (und wenn es nur die Nachbarin zwei Stockwerke höher ist) zu Rate ziehen, wo unser eigenes Gefühl oder unsere Meinung wichtiger wäre.

Muttergefühle bedeuten für mich weit mehr, als zu Tränen gerührt sein Neugeborenes im Arm zu schaukeln. Muttergefühl bedeutet für mich, ständig im Kontakt mit meinem Kind zu sein, es immer wieder verstehen zu wollen, empathisch zu sein, es so zu lassen, wie es ist, neugierig zu bleiben, wie es sich entwickelt. Denn das ist echtes Muttergefühl auch: Erkennen, dass mein Kind ein eigenständiges Wesen ist, das nicht meinen Erwartungen entsprechen muss. Auch, wenn es eine ganz andere Richtung einschlägt, als ich mir das vorgestellt habe oder wenn es Wesenszüge an den Tag legt, die ich nicht wünschenswert finde.

Und manchmal bedeutet das eben auch, gegen die Norm, gegen die Erwartungshaltung von Außen zu handeln, weil man spürt, dass es dem Kind mit der Entscheidung besser geht.

Leicht ist das nicht. Es ist ein langer Weg, der mit Höhen und Tiefen versehen ist. Vielleicht hat dieser Weg auch gar kein Ende. Vielleicht ist es eine lebenslange Aufgabe, sich und sein Kind immer wieder neu zu entdecken, interessiert nachzuhören oder nachzuspüren, was es gerade bewegt. Denn das kann die Wissenschaft auf dem Papier oder die Studie mit fremden Kindern nicht.

Ich möchte meinem Muttergefühl mehr Gewicht geben und damit verbunden meinen Söhnen mehr Mitgefühl zuteil werden lassen. Und ist es nicht das, wovon wir alle in unserer Gesellschaft mehr gebrauchen könnten?

Foto mit freundlicher Unterstützung von © Dani Guitarra, unsplash.com

Ein Gedanke zu „Wieviel Muttergefühl braucht unsere Gesellschaft?“

  1. Daniela sagt:

    Liebe Christine,
    ich finde, dass es kein Rückschritt ist deinem Großen wieder eine Windel zu geben. Wir erziehen an unseren Kindern in Bezug auf körperliche Entwicklungsschritte oft viel zu viel herum, obwohl es völlig unnötig ist.
    Wenn man täglich mehrere nasse Hosen hat, ist das Kind einfach noch nicht so weit… Das kommt schon noch.
    Gras wächst eben auch nicht schneller, wenn man daran zieht ;)

    Liebe Grüße
    Daniela

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