Lebensfragen

Das Geschenk des Zuhörens

In Michael Endes Verfilmung seiner gleichnamigen Romanfigur „Momo“ gibt es ziemlich am Anfang eine Szene, in der das junge Mädchen bei einer älteren Frau im Wohnzimmer vor deren Vogelkäfig sitzt. Während Momo einfach nur still dasitzt, hört man die Alte im Hintergrund klagen, ihr Vogel hätte vor langer Zeit einfach aufgehört zu singen. Noch während Momo weiterhin still neben dem Käfig sitzt und ihre ganze Aufmerksamkeit dem Piepmatz gilt, fängt dieser plötzlich wie von Zauberhand an, sein schönstes Lied zu trällern. Die alte Dame ist vor Freude völlig außer sich und fragt das kleine Mädchen, wie sie es geschafft habe, ihn wieder zum Singen zu bringen. Darauf erwidert Momo nur: „Ich glaube, man muss ihm zuhören, auch, wenn er nicht singt.“ Diese Szene blieb mir bis heute gut in Erinnerung, weil ich ihre Aussage so stark fand.

Als ich noch ein kleines Mädchen war, konnte ich es sehr gut: Zuhören. Anderen mein Ohr leihen, selbst dafür in den Hintergrund treten. Vielleicht, weil ich schon damals eher zu den leiseren Menschen zählte, die sich selbst nicht gerne in den Vordergrund drängen. Lange Zeit galt ich als sehr schüchtern, was diese Eigenschaft sicher nur noch förderte.

In der Schule war ich in den mündlichen Fächern ein Problemkind, weil ich mich nur zu selten traute, meine Meinung offen anzusprechen. Für meine coolen Mitschüler war ich uninteressant und deshalb eine Zielscheibe für Mobbing oder völlige Ignoranz. Ich wusste nicht, was ich schlimmer fand.

Das Geschenk des ZuhörensVielleicht war das ein Grund, warum ich während meiner Ausbildung meinem Charakter mehr Expressivität verlieh und nicht nur äußerlich vermeintlich lauter wurde.
Jahrelang trainierte ich mir mein leises Wesen ab, weil ich die weichen Züge in mir ablehnte.

Wer dazugehören will, wer in der Welt etwas gelten möchte, der kommt um ein lautes Auftreten nicht drum herum.

Das gilt nicht nur in der Schule, sondern zieht sich durch unsere ganze Gesellschaftsform. Höher, schneller, weiter. So lautet das unausgesprochene Lebensmotto, wer erfolgreich sein möchte. Ob bei der Suche nach dem Traumprinzen oder dem Traumjob. Immer müssen wir besser sein als der Rest, um möglichst weit vorne mitzuspielen.

Aber stimmt das wirklich? Braucht es im Leben nicht auch Entschleunigung? Leise Töne und Menschen, die das gute Mittelmaß oder gar das langsame Schlusslicht repräsentieren?

Irgendwann erkannte ich, dass ich mit meinem veränderten Charakter zwar bei den cooleren Freunden gut ankam, meine Lebensqualität aber stark abnahm. Ich war eben nie der Typ, der das Oberflächliche, Hervorstechende in seinem Leben brauchte. In meinem Grundwesen war ich immer noch die leise, ruhige Christine, nur, dass es mir nach meiner Erkenntnis überhaupt nicht leicht fiel, dorthin wieder zurück zu finden.

Das Geschenk des ZuhörensZu oft sehe ich mir auch heute noch selbst dabei zu, wie ich auf einem Geburtstag lautstark versuche, mit Wortwitz oder spannenden Geschichten auf mich aufmerksam zu machen, obwohl ich mir jedes Mal vorher vornehme, mich dieses Mal zurück zu nehmen um Anderen die Bühne der Selbstinszenierung zu überlassen. Vielleicht sitzt die Angst, wieder in der Masse unterzugehen, immer noch sehr tief.

Und dennoch merke ich heute, über fünfzehn Jahre nach meinem Wunsch, zur coolen Masse dazugehören zu wollen, die Dringlichkeit, wieder mein wahres, sensibles Selbst hervortreten zu lassen. Wieder leise zu werden, das laute Geplapper in meinem Kopf zur Ruhe zu bringen.

Und ist nicht gerade die Eigenschaft des Zuhörens eine wunderbare Möglichkeit, uns selbst und Andere wirklich kennen zu lernen? Nur wer hinhört, erfährt auch etwas über das Wesen seines Gesprächspartners.

Seit ich Mutter bin, weiß ich, wie sehr auch meine Kinder dieses Hinhören benötigen. Achtsames Zuhören bedeutet, alles andere drum herum stehen und liegen zu lassen und sich vollends auf sein Gegenüber einzustellen. Versuchen, sie oder ihn ganz wahrzunehmen und auch den unausgesprochenen Worten zu lauschen. Was braucht mein Kind jetzt? Was ist ihm wichtig? Und wenn es nur der Wunsch ist, das Erlebte erzählen zu können, ohne, dass die Mutter nebenbei die Wäsche faltet und nur hin und wieder „Hmmmm“ von sich gibt.

Das Geschenk des ZuhörensDoch wie schwer fällt uns dieses achtsame Zuhören! Viel zu oft unterbrechen wir unseren Partner, die Freundin oder unsere Kinder, viel zu oft beenden wir für Andere ihre Sätze, nur weil wir meinen, eh zu wissen, was sie sagen wollten. Was für eine vertane Chance für uns und was für ein unhöfliches Verhalten dem Anderen gegenüber obenauf!

Ist es nicht ein Zeichen von Angst um Beraubung unserer wertvollen Lebenszeit, wenn wir den Anderen nicht mal aussprechen lassen?

Jetzt in der dunklen Jahreszeit haben wir wieder einmal mehr die Gelegenheit, das Zuhören zu üben. Wenn Draußen der Schnee fällt, die Tage noch kurz sind und alles nach Einkehr ruft – innen wie außen.

Können wir überhaupt noch der Stille in uns selbst lauschen? Den Schneeflocken auf ihrem Weg Richtung Erdboden zuhören? Wie viel Stille halten wir in uns selbst aus, ohne uns direkt wieder abzulenken? Indem wir den Fernseher einschalten oder neueste Nachrichten bei Facebook checken?

Das Geschenk des ZuhörensMir selbst zuhören, um wieder herauszufinden, wer ich wirklich bin, wo ich stehe und ob ich noch auf dem richtigen Weg bin, scheint tatsächlich manchmal schwieriger, als ein wichtiges Meeting vorzubereiten oder den Kindergeburtstag des Sohnes zu organisieren.

Aber wie viel mehr können wir gewinnen, wenn wir uns auch mal wieder für die leisen Töne öffnen? Der redseligen Nachbarin ein Geschenk machen und ihr zehn Minuten unserer Zeit geben, damit sie von ihrem Urlaub in den Bergen erzählen kann, auch, wenn uns das eigentlich gar nicht interessiert? Unseren Kindern die volle Aufmerksamkeit schenken, während sie uns voller Enthusiasmus von dem großen Bagger auf der Baustelle berichten? Unserem wahren Selbst mal wieder in einer ruhigen Minute auf dem Sofa gestatten, uns von seinen geheimen Wünschen zu erzählen?

Dann öffnen wir unser Herz nicht nur für mehr Achtsamkeit und Mitmenschlichkeit in unserer Welt, sondern geben auch dem Vögelchen in uns selbst die Gelegenheit, sein schönstes Lied zu singen. Und ist es nicht das, was uns wirklich zum Strahlen und Sinn in unser Leben bringt?

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